Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Endlose Mengen standen an Zirkussen und anderen großen Gebäuden herum, wo die populärsten Bolschewiki mit letzten Schlußfolgerungen und letzten Appellen auftraten.
Die Zahl der führenden Agitatoren verringerte sich stark gegen Oktober. Es fehlte vor allem Lenin als Agitator und mehr noch als unmittelbarer Tagesinspirator. Es fehlten seine einfachen und tiefen Verallgemeinerungen, die sich fest in das Bewußtsein der Massen einbohrten, seine prägnanten, dem Volke abgelauschten und ihm zurückgegebenen Ausdrücke. Es fehlte der hervorragende Agitator Sinowjew: vor den Verfolgungen wegen der Teilnahme am Juli-"Aufstande" verborgen, hatte er sich entschieden gegen den Oktoberaufstand gewandt und war damit für die ganze kritische Periode vom Betätigungsfelde verschwunden. Kamenjew, unersetzlicher Propagandist und erfahrener politischer Parteiinstrukteur, verurteilte den Kurs auf den Aufstand, glaubte nicht an den Sieg, sah eine Katastrophe voraus und trat finster in den Schatten. Swerdlow, von Natur mehr Organisator als Agitator, trat häufig in Massenversammlungen auf, und sein gleichmäßiger, mächtiger und nie ermüdender Baß verbreitete ruhige Sicherheit. Stalin war weder Agitator noch Redner. Mehr als einmal figurierte er als Berichterstatter bei Parteiberatungen. Aber sprach er auch nur einmal in einer Massenversammlung der Revolution? In den Dokumenten und Erinnerungen sind diesbezüglich keine Spuren erhalten geblieben.
Eindrucksvolle Agitation führten Wolodarski, Laschewitsch, Kollontay, Tschudnowski. Hinterher kamen Dutzende von Agitatoren kleineren Kalibers. Mit Interesse und Sympathie, in die sich bei den Aufgeklärteren Nachsichtigkeit mengte, hörte man Lunatscharski an, einen erfahrenen Redner, der eine Tatsache, eine Verallgemeinerung, Pathos und Scherz anzubringen wußte, der aber keinen Anspruch darauf erhob, jemand zu führen: er hatte selbst nötig, geführt zu werden. Je näher der Umwälzung, desto rascher verlor Lunatscharski an Farbe und verblaßte.
Suchanow erzählt von dem Vorsitzenden des Petrograder Sowjets: "Sich von der Arbeit im Revolutionsstab losreißend, flog er vom Obuchowski-Werk zum Truboschtschny, vom Putilow zum Baltijski, aus der Manege in die Kasernen, und es war, als spräche er gleichzeitig an allen Orten. Es kannte und hörte ihn jeder Petrograder Arbeiter und Soldat. Sein Einfluß - bei den Massen und im Stab - war überwältigend. Er war die Zentralfigur dieser Tage und der Hauptheld dieser bedeutsamen Seite der Geschichte."
Doch unermeßlich wirksamer war in dieser letzten Periode vor der Umwälzung jene molekulare Agitation, die namenlose Arbeiter, Matrosen, Soldaten führten, Gesinnungsgenossen einzeln werbend, letzte Zweifel vernichtend, letzte Schwankungen überwindend. Die Monate fieberhaften politischen Lebens hatten zahlreiche untere Kader geschaffen, Hunderte und Tausende urwüchsiger Menschen erzogen, die gewohnt waren, die Politik von unten zu beobachten, nicht von oben, und die gerade darum Tatsachen und Menschen mit einer Treffsicherheit einschätzten, wie sie Rednern akademischen Schlages längst nicht immer gegeben ist. An erster Stelle standen die Petrograder Arbeiter, erbliche Proletarier, die eine Schicht Agitatoren und Organisatoren geschaffen hatten von ausnehmend revolutionärer Stählung, hoher politischer Kultur, selbständig in Denken, Wort und Tat. Dreher, Schlosser, Schmiede, Erzieher von Werken und Fabriken, hatten um sich schon ihre Schulen und ihre Schüler, spätere Erbauer der Sowjetrepublik. Die baltischen Matrosen, engste Kampfgefährten der Petrograder Arbeiter, in hohem Maße deren Mitte entstammend, haben Brigaden von Agitatoren hervorgebracht, die im Sturm rückständige Regimenter, Kreisstädte, Muschikdörfer eroberten. Eine verallgemeinernde Formel, im Zirkus Modern von einem der revolutionären Führer hingeworfen, füllte sich in Hunderten denkender Köpfe mit Fleisch und Blut und machte dann einen Kreislauf durch das ganze Land.
Aus den baltischen Provinzen, aus Polen, Litauen wurden Tausende revolutionärer Arbeiter und Soldaten beim Rückzug der russischen Armee zusammen mit den Industriebetrieben oder einzeln evakuiert: alles das waren Agitatoren gegen den Krieg und seine Schuldigen. Lettische Bolschewiki, von ihrem Heimatboden getrennt und völlig auf dem Boden der Revolution stehend, überzeugt, trotzig, entschlossen, leisteten tagaus tagein Wühlarbeit in allen Teilen des Landes. Die eckigen Gesichter, der harte
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