Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
einzulassen. Das intelligenzlerische, talmi-aristokratische, verächtliche Verhalten zum Volke war dem Bolschewismus fremd, seiner Natur zuwider. Die Bolschewiki waren keine Kiebitze, keine Schreibtischfreunde des Volkes, keine Pedanten. Sie fürchteten sich nicht vor jenen rückständigen Schichten, die zum ersten Male vom tiefsten Grunde emporstiegen. Die Bolschewiki nahmen das Volk so, wie es die vorangegangene Geschichte geschaffen hatte und wie es berufen war, die Revolution zu vollbringen. Ihre Mission erblickten die Bolschewiki darin, sich an die Spitze dieses Volkes zu stellen. Gegen den Aufstand waren "alle" außer den Bolschewiki. Die Bolschewiki aber - das war das Volk.
Die tragende politische Kraft der Oktoberumwälzung war das Proletariat, und in ihm nahmen den ersten Platz die Petrograder Arbeiter ein. In der Avantgarde der Hauptstadt wiederum stand der Wyborger Bezirk. Der Aufstandsplan erwählte diesen ausschlaggebenden proletarischen Bezirk zur Ausgangsbasis für die Entwicklung des Angriffs.
Versöhnler aller Schattierungen, beginnend mit Martow, versuchten schon nach der Umwälzung den Bolschewismus als eine Soldatenströmung hinzustellen. Die europäische Sozialdemokratie griff freudig diese Theorie auf. Dabei wurden die grundlegenden historischen Tatsachen ignoriert: daß das Proletariat als erstes auf die Seite der Bolschewiki überging; daß die Petrograder Arbeiter den Arbeitern des ganzen Landes den Weg wiesen; daß Garnison und Front viel länger Stützpunkt der Versöhnler blieben; daß Sozialrevolutionäre und Menschewiki im Sowjetsystem verschiedentliche Privilegien für die Soldaten zum Schaden der Arbeiter geschaffen, gegen die Bewaffnung der Arbeiter gekämpft und die Soldaten gegen sie gehetzt hatten; daß nur unter dem Einfluß der Arbeiter ein Umschwung in den Truppen sich vollzog; daß die Führung der Soldaten im entscheidenden Augenblick in den Händen der Arbeiter lag; schließlich, daß ein Jahr später die Sozialdemokratie in Deutschland nach dem Beispiel ihrer russischen Gesinnungsgenossen sich im Kampfe gegen die Arbeiter auf die Soldaten stützte.
Gegen Herbst hatten die rechten Versöhnler endgültig die Möglichkeit eingebüßt, in Fabriken und Kasernen aufzutreten. Die linken jedoch versuchten noch, die Massen vom Wahnsinn des Aufstandes zu überzeugen. Martow, der im Kampfe gegen die im Juli angreifende Konterrevolution einen Pfad zum Bewußtsein der Massen gefunden hatte, verrichtete jetzt wiederum eine hoffnungslose Sache. "Wir können nicht damit rechnen", gestand er selbst am 14. Oktober in der Sitzung des Zentral-Exekutivkomitees, "daß die Bolschewiki auf uns hören werden." Nichtsdestoweniger e r blickte er seine Pflicht darin, "die Massen zu warnen". Die Massen aber verlangten nach Taten, nicht nach Belehrungen. Sogar in den Fällen, wo sie verhältnismäßig geduldig einen bekannten Warner anhörten, "dachten sie sich weiter das Ihre", gesteht Mstislawski. Suchanow erzählt, wie er unter regnerischem Himmel die Putilower zu überzeugen versuchte, daß die Sache sich ohne Aufstand gutmachen lasse. Er wurde von ungeduldigen Stimmen unterbrochen. Zwei - drei Minuten hörte man zu, unterbrach dann wieder. "Nach einigen Versuchen gab ich die Sache auf. Es kam nichts dabei heraus ..., der Regen aber fiel immer stärker auf uns." Unter dem unfreundlichen Oktoberhimmel sehen die armen linken Demokraten sogar in ihrer eigenen Schilderung wie nasse Hühner aus.
Beliebtes politisches Argument der "linken" Gegner der Umwälzung wurde, auch unter den Bolschewiki, der Hinweis auf das Fehlen des Kampfwillens in den unteren Schichten. "Die Stimmung der Werktätigen- und der Soldatenmassen", schrieben Sinowjew und Kamenjew am 11. Oktober, "erinnert nicht einmal an die Stimmung vor dem 3. Juli." Das hatte seine Gründe: unter dem Petrograder Proletariat herrschte eine gewisse Niedergeschlagenheit infolge des zu langen Wartens. Es setzte eine Enttäuschung ein, auch an den Bolschewiki: sollten auch sie betrügen? Am 16. Oktober sagte Rachia, einer der aktivsten Petrograder Bolschewiki, der Abstammung nach Finne, in der Sitzung des Zentralkomitees: "Offensichtlich verspätet sich unsere Losung, denn es bestehen Zweifel, ob wir das tun werden, wozu wir aufrufen." Doch die Müdigkeit vom Warten, die nach Erschlaffung aussah, währte nur bis zum ersten Kampfsignal.
Die Aufgabe jedes Aufstandes besteht zunächst darin, auf seine Seite die Truppen herüberzuziehen. Dazu eben
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