Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Tereschtschenko, stärker in Choreographie als in Diplomatie, findet vermutlich Zeit, die Spitzenkappe der Ballerina zu bewundern und so die Festigkeit des Regimes zu demonstrieren. Überbleibsel alter Feste sind noch sehr zahlreich, und für Geld ist alles zu haben. Gardeoffiziere klirren noch vernehmlich mit den Sporen und suchen Abenteuer. In den Chambres séparées der teuren Restaurants finden wüste Zechgelage statt. Die Absperrung des elektrischen Lichtes um Mitternacht hindert das Blühen von Spielklubs nicht, wo bei Stearinkerzen Champagner funkelt, erlauchte Plünderer des Staatsschatzes nicht weniger erlauchte deutsche Spione schröpfen, monarchistische Verschwörer semitischen Kontrabandisten Paß! ansagen und astronomische Einsatzziffern gleichzeitig Ausmaß der Ausschweifung wie Ausmaß der Inflation anzeigen.
Führt wirklich eine einfache Trambahn, vernachlässigt, schmutzig, saumselig, mit Menschentrauben behängt, aus diesem in Agonie liegenden St. Petersburg zu den in leidenschaftlicher Spannung lebenden Arbeitervierteln? Die hellblauen, mit Gold ausgelegten Kuppeln des Smolny-Klosters bezeichnen aus der Ferne den Stab des Aufstandes: am Rande der alten Stadt, wo die Trambahnlinie endet und die Newa eine schroffe Biegung nach Süden macht, das Zentrum von den Vorstädten trennend. Ein langes graues, dreistöckiges Gebäude, Erziehungskaserne für Adelstöchter, ist nun die Feste der Sowjets. Die endlosen hauenden Korridore sind wie geschaffen für den Unterricht in Gesetzen der Perspektive. An den Türen vieler Dutzende Zimmer die Korridore entlang sind noch emaillierte Schilder erhalten: "Lehrerzimmer", "Dritte Klasse", "Vierte Klasse", "Klassendame". Aber neben den alten Schildern oder diese verdeckend sind flüchtig Papierbogen mit geheimnisvollen Revolutionshieroglyphen angeheftet: ZK d. P.S.R., S-D.-Menschewiki, S-D.-Bolschewiki, Linke S.-R., Anarchisten-Kommunisten, Expedition des ZJK, usw. usw. John Reeds achtsames Auge entdeckte an den Wänden Plakate: "Genossen, im Interesse eurer eigenen Gesundheit haltet auf Sauberkeit." Aber, ach, keiner hält auf Sauberkeit, angefangen bei der Natur. Das Oktober-Petrograd lebt unter einer Regenkuppel. Die Straßen, schon lange nicht gereinigt, sind schmutzig. Im Hofe des Smolny unermeßliche Pfützen. Die Soldatensohlen tragen den Schmutz in Korridore und Säle. Doch niemand blickt jetzt nach unten, vor die Füße; alle blicken vorwärts.
Das Smolny kommandiert immer fester und gebieterischer, gehoben von der leidenschaftlichen Sympathie der Massen. Die Zentralleitung erfaßt unmittelbar nur die oberen Glieder jenes revolutionären Systems, dem in seiner Gesamtheit die Vollziehung der Umwälzung obliegt. Das Wichtigste wird unten - und wie von selbst getan. Fabriken und Kasernen,
- das sind in diesen Tagen und Nächten die Brandherde der Geschichte. Im Wyborger Bezirk konzentrieren sich, wie im Februar, die Hauptkräfte der Revolution, doch zum Unterschiede vom Februar besitzt er jetzt seine mächtige Organisation, eine offene, allgemein anerkannte. Aus Straßen, Fabrikküchen, Klubs, Kasernen laufen alle Fäden zusammen im Hause Nummer dreiunddreißig auf dem Sampsonjewski-Prospekt, wo Bezirkskomitee der Bolschewiki, Wyborger Sowjet und Kampfstab sich befinden. Die Bezirksmiliz verschmilzt mit der Roten Garde. Der Bezirk ist völlig in der Gewalt der Arbeiter. Würde die Regierung den Smolny niederschlagen, der Wyborger Bezirk allein könnte das Zentrum wiederherstellen und den weiteren Angriff sichern.
Die Entscheidung war dicht herangerückt, doch die Regierenden glaubten bis zum letzten Moment oder gaben sich wenigstens den Anschein, daß sie keine besonderen Ursachen zur Besorgnis hätten. Die britische Gesandtschaft, die Grund genug hatte, die Ereignisse in Petrograd aufmerksam zu verfolgen, erhielt, nach den Worten des damaligen russischen Gesandten in London, zuverlässige Meldungen über die bevorstehende Umwälzung. Buchanans besorgte Fragen beantwortete Tereschtschenko nach dem traditionellen Diplomatenfrühstück mit heißen Beteuerungen: "So etwas" könne nicht passieren, die Regierung halte die Zügel fest in den Händen. Die russische Botschaft in London erfuhr von der Umwälzung in Petrograd aus einer Meldung der britischen Telegraphenagentur.
Der Hüttenmagnat Auerbach, der in jenen Tagen den Ministergehilfen Paltschinski besuchte, erkundigte sich nach einer Unterhaltung über ernstere Geschäfte so nebenbei nach den "schwarzen
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