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Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Trotzki
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liberalen Popen küßte, die Kadettenminister auf Schultern trug, sich an Kerenskis Reden berauschte und daran glaubte, daß die Bolschewiki deutsche Agenten seien -war nichts übrig geblieben. Die rosigen Illusionen waren eingestampft in den Schmutz der Schützengräben, den die Soldaten mit ihren durchlöcherten Stiefeln weiterzukneten sich weigerten. "Die Lösung naht", schrieb am Tage des Petrograder Aufstandes Budberg, "und an ihrem Ausgang kann kein Zweifel bestehen; an unserer Front gibt es keinen Truppenteil mehr, der nicht in der Gewalt der Bolschewiki wäre."

Kapitel 21: Einnahme der Hauptstadt
    Alles veränderte sich, und alles blieb gleich. Die Revolution hatte das Land erschüttert, den Zerfall vertieft, die einen eingeschüchtert, die anderen verhärtet, aber noch nichts bis zu Ende gewagt, nichts ersetzt. Das kaiserliche St. Petersburg schien eher in lethargischen Schlaf versunken als tot. Den gußeisernen Denkmälern der Monarchie hatte die Revolution rote Fähnchen in die Hand gesteckt. Große rote Leinwandtücher wehten über den Fronten der Regierungsgebäude. Aber die Paläste, Ministerien, Stäbe lebten ganz gesondert von ihren roten Bannern, die noch dazu unter dem herbstlichen Regen gehörig ausgeblieben waren. Die Doppeladler mit Zepter und Reichsapfel sind, wo nur möglich, heruntergerissen, häufiger allerdings verhängt oder in aller Eile übermalt. Sie scheinen sich verborgen zu halten. Das ganze Rußland hält sich verborgen, mit vor Wut verzerrten Kiefern.
    Die wenig gewichtigen Gestalten der Milizionäre an den Straßenkreuzungen erinnern noch am häufigsten an die Umwälzung, die die lebenden Monumenten ähnelnden "Pharaonen" hinweggefegt hat. Außerdem nennt sich Rußland nun seit fast zwei Monaten Republik. Die Zarenfamilie befindet sich in Tobolsk. Nein, der Februarwirbel ist nicht spurlos vorübergegangen. Aber die Zarengenerale bleiben Generale, Senatoren - Senatoren, Geheimräte schützen ihre Würden, die Rangliste bleibt in Kraft, bunte Mützenränder und Kokarden erinnern an die bürokratische Hierarchie, und gelbe Knöpfe mit Adler kennzeichnen Studenten. Und die Hauptsache, Gutsbesitzer bleiben Gutsbesitzer, das Kriegsende ist nicht abzusehen, die Ententediplomaten halten das offizielle Rußland frecher denn je an der Strippe.
    Alles bleibt beim alten, und doch erkennt keiner sich wieder. Die aristokratischen Viertel fühlen sich in den Hintergrund geschoben. Die Viertel der liberalen Bourgeoisie sind dichter an die Aristokratie herangerückt. Aus einem patriotischen Mythos ist das Volk furchtbare Realität geworden. Unter den Füßen schwankt alles und bröckelt auseinander. Der Mystizismus flackert mit heftiger Kraft in jenen Kreisen auf, die noch vor gar nicht so langer Zeit über den Aberglauben der Monarchie höhnten.
    Börsianer, Advokaten, Ballerinen verfluchen die eingetretene Verfinsterung der Sitten. Der Glaube an die Konstituierende Versammlung verflüchtigt sich mit jedem Tage mehr. Gorki prophezeite in seiner Zeitung den herannahenden Zusammenbruch der Kultur. Die seit den Junitagen verstärkte Flucht aus dem wilden und hungrigen Petrograd in die friedlichere und sattere Provinz nimmt im Augenblick der Oktoberumwälzung epidemischen Charakter an. Solide Familien, denen es nicht gelungen war, die Hauptstadt zu verlassen, sind vergeblich bemüht, sieh durch Steinmauern und Eisendach gegen die Wirklichkeit abzusperren. Das Echo des Sturms dringt von überall herein: durch den Markt, wo alles teurer und alles knapp wird; durch die wohlmeinende Presse, die sich in ein Geheul von Haß und Angst verwandelt hat; durch die brodelnde Straße, wo manchmal vor den Fenstern geschossen wird, und schließlich durch den Hintereingang, über die Dienstboten die nicht mehr gewillt sind, sich geduldig zu unterwerfen. Hier trifft die Revolution vielleicht die empfindlichste Stelle: der Widerstand der Haussklaven zerstört endgültig die Stabilität der häuslichen Ordnung.
    Und doch wehrt sich die Alltagsroutine aus aller Kraft. Schüler lernen in den Schulen nach alten Lehrbüchern, Beamte beschreiben Papiere, die niemand braucht, Dichter schwitzen Verse, die niemand liest, Ammen erzählen Märchen vom Zarewitsch Iwan. Aus der Provinz gekommene Adels- und Kaufmannstöchter studieren Musik oder suchen Bräutigame. Die alte Kanone verkündet von den Mauern der Peter-Paul-Festung herab die Mittagsstunde im Mariinski-Theater geht ein neues Ballett, und der Außenminister

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