Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
drängen sich derart von selbst auf, daß einige von ihnen zu abgenutzten Metaphern geworden sind: "vulkanische Ausbrüche", "Geburt einer neuen Gesellschaft", "Siedepunkt" ... Unter dem einfachen literarischen Bild verbergen sich da intuitiv erfaßte Gesetze der Dialektik, das heißt der Logik der Entwicklung.
Was die Revolution als ganzes - im Verhältnis zur Evolution -, ist der bewaffnete Aufstand - im Verhältnis zur Revolution selbst: der kritische Punkt, wo die angehäufte Quantität explodierend in Qualität übergeht. Aber auch der Aufstand selbst ist kein einheitlicher, ungeteilter Akt: er hat seine eigenen kritischen Punkte, eigenen inneren Krisen und Steigerungen.
Äußerst wichtig, sowohl politisch wie theoretisch, ist die kurze Periode, die dem "Siedepunkt" unmittelbar vorangeht, das heißt, der Vorabend des Aufstandes. Die Physik lehrt, daß ein gleichmäßiger Erwärmungsprozeß plötzlich zum Stillstand kommt, die Flüssigkeit behält eine bestimmte Zeit unverändert die Temperatur, um erst nach Aufnahme einer ergänzenden Wärmemenge zu sieden. Die Umgangssprache kommt uns auch hier zu Hilfe, indem sie den Zustand der scheinbar ruhigen Konzentration vor der Explosion als "Ruhe vor dem Sturm" bezeichnet.
Als auf die Seite der Bolschewiki die absolute Mehrheit der Arbeiter und Soldaten Petrograds übergegangen war, schien die Temperatur des Siedens erreicht. Eben in diesem Augenblick proklamierte Lenin die Notwendigkeit des sofortigen Aufstandes. Doch erstaunlich: es fehlte etwas für den Aufstand. Die Arbeiter und besonders die Soldaten mußten noch eine ergänzende Menge revolutionärer Energie in sich aufnehmen.
Bei den Massen gibt es keinen Widerspruch zwischen Wort und Tat. Doch erzeugt der Übergang vom Wort zur Tat, sogar zum einfachen Streik, um wieviel mehr zum Aufstand, unvermeidlich innere Reibungen und molekulare Umgruppierungen: die einen rücken vor, die anderen werden zurückgedrängt. Bei seinen ersten Schritten zeichnet sich der Bürgerkrieg überhaupt durch äußerste Unentschlossenheit aus. Beide Lager versinken gleichsam im selben nationalen Boden, können sich von der eigenen Peripherie mit ihren Zwischenschichten und versöhnlerischen Stimmungen nicht losreißen.
Die Ruhe vor dem Sturm in den unteren Schichten bedeutete schroffe Stockung in der führenden Schicht. Die Organe und Institutionen, die sich in der verhältnismäßig friedlichen Vorbereitungsperiode herausbildeten - die Revolution hat ihre friedlichen Perioden wie der Krieg seine Ruhetage -, erwiesen sich sogar bei der gestähltesten Partei als den Aufgaben des Aufstandes nicht entsprechend oder nicht völlig entsprechend: eine gewisse Verschiebung und Umbildung wird im allerkritischsten Augenblick unvermeidlich. Bei weitem nicht sämtliche Delegierten des Petrograder Sowjets, die für die Sowjetmacht gestimmt hatten, waren wahrhaft vom Gedanken durchdrungen, daß der bewaffnete Aufstand Tagesaufgabe geworden. Man mußte sie unter kleinsten Erschütterungen auf den neuen Weg hinüberleiten, um den Sowjet in einen Apparat des Aufstandes zu verwandeln. Unter den Bedingungen der herangereiften Krise waren dafür keine Monate, nicht einmal viele Wochen erforderlich. Aber gerade in den letzten Tagen war es am gefährlichsten, außer Schritt zu kommen, einen Sprung zu kommandieren einige Tage zu früh, bevor der Sowjet dafür fertig war, Verwirrung in den eigenen Reihen hervorzurufen, die Partei vom Sowjet auch nur für vierundzwanzig Stunden zu trennen. Lenin hatte mehr als einmal wiederholt, die Massen seien unvergleichlich linker als die Partei, wie die Partei linker als das eigene Zentralkomitee. In bezug auf die Revolution als ganzes war das absolut richtig. Aber auch diese Wechselbeziehungen haben ihre eigenen tiefen inneren Schwankungen. Im April, Juni und besonders Anfang Juli stießen die Arbeiter und Soldaten die Partei ungeduldig auf den Weg entschiedener Taten. Nach der Juliniederschlagung wurden die Massen vorsichtiger. Sie wollten zwar in alter Weise und sogar stärker die Umwälzung. Doch nachdem sie sich die Finger tüchtig verbrannt, befürchteten sie einen neuen Mißerfolg. Juli, August und September hielt die Partei tagaus tagein die Arbeiter und Soldaten zurück, während die Kornilowianer dagegen sie mit allen Mitteln auf die Straße zu locken suchten. Die politische Erfahrung der letzten Monate hatte stark die Bremszentren nicht nur bei den Führern, sondern auch bei den Geführten entwickelt. Die
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