Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
dauernden Erfolge der Agitation nährten ihrerseits wiederum das Beharrungsvermögen der abwartenden Stimmungen. Den Massen genügte die neue politische Orientierung nicht: sie mußten sich psychologisch umstellen. Der Aufstand umfaßt um so breitere Massen, je mehr das Kommando der revolutionären Partei eins ist mit dem Kommando der Verhältnisse.
Die schwierige Frage des Übergangs von der Politik der Vorbereitung zur Technik des Aufstandes erhob sich im ganzen Lande, in verschiedenen Formen, doch im Kern einheitlich. Muralow erzählt, in der Moskauer Militärischen Organisation der Bolschewiki hätte über die Notwendigkeit der Machtergreifung eine Meinung geherrscht; jedoch "der Versuch, die Frage konkret zu entscheiden, wie diese Machtergreifung durchzuführen sei, blieb ungelöst". Es fehlte das letzte verbindende Glied.
In jenen Tagen, als Petrograd im Zeichen der Versetzung der Garnison stand, lebte Moskau in der Atmosphäre ununterbrochener Streikzusammenstöße. Auf Initiative der Fabrikkomitees entwarf die bolschewistische Fraktion des Sowjets den Plan: ökonomische Konflikte auf dem Wege von Dekreten zu lösen. Die vorbereitenden Schritte erforderten nicht wenig Zeit. Erst am 23. Oktober nahmen die Moskauer Sowjetorgane das Revolutionäre Dekret Nr. 1 an: Arbeiter und Angestellte in Fabriken und Werken dürfen von nun an nur mit Zustimmung der Fabrik- und Werkkomitees eingestellt und entlassen werden. Das bedeutete, als Staatsmacht zu handeln beginnen. Der unvermeidliche Widerstand der Regierung mußte nach Ansicht der Initiatoren die Massen um den Sowjet enger zusammenschließen und zum offenen Konflikt führen. Der Plan fand keine Nachprüfung, da die Umwälzung in Petrograd Moskau wie dem ganzen übrigen Lande ein gebieterisches Argument für den Aufstand lieferte: man mußte sofort die soeben entstandene Sowjetregierung unterstützen.
Die angreifende Seite ist fast stets daran interessiert, in der Defensive zu erscheinen. Die revolutionäre Partei ist an legaler Deckung interessiert. Der bevorstehende Sowjetkongreß, im wesentlichen Kongreß der Umwälzung, war für die Massen gleichzeitig unbestrittener Träger, wenn nicht der gesamten, so doch mindestens einer guten Hälfte der Souveränität. Es ging um den Aufstand eines Elements der Doppelherrschaft gegen das andere. Während es an den Kongreß als an die Machtquelle appellierte, beschuldigte das Militärische Revolutionskomitee die Regierung von vornherein, sie bereite ein Attentat auf die Sowjets vor. Diese Beschuldigung ergab sich aus der ganzen Situation. Insofern die Regierung nicht die Absicht hatte, ohne Kampf zu kapitulieren, mußte sie sich auf Selbstverteidigung vorbereiten. Doch damit allein schon geriet sie unter die Beschuldigung der Verschwörung gegen das höchste Organ der Arbeiter, Soldaten und Bauern. Im Kampf gegen den Sowjetkongreß, der Kerenski stürzen sollte, erhob die Regierung die Hand gegen die Quelle der Macht, aus der Kerenski hervorgegangen war.
Es wäre grober Irrtum, in alldem nur juristische, dem Volke gleichgültige Finessen zu sehen: im Gegenteil, gerade so spiegelten sich die grundlegenden Tatsachen der Revolution im Bewußtsein der Massen wider. Diese außergewöhnlich günstige Verknüpfung mußte restlos ausgenutzt werden. Indem sie der natürlichen Unlust der Soldaten, aus den Kasernen in die Schützengräben zu wandern, ein großes politisches Ziel verlieh und die Garnison zur Verteidigung des Sowjetkongresses mobilisierte, band sich die revolutionäre Führung in keiner Weise die Hände in bezug auf die Frist des Aufstandes. Die Wahl des Tages und der Stunde hing vom weiteren Verlauf des Zusammenstoßes ab. Die Manövrierfreiheit war bei dem Stärkeren.
"Zuerst besiegt Kerenski, dann ruft den Kongreß ein", wiederholte Lenin, der befürchtete, der Aufstand könnte in ein konstitutionelles Spiel umgefälscht werden. Offensichtlich hatte Lenin noch nicht Zeit genug gehabt, den neuen Faktor einzuschätzen, der in die Vorbereitung des Aufstandes einschnitt und deren gesamten Charakter veränderte, nämlich den scharfen Konflikt zwischen Petrograder Garnison und Regierung. Wenn der Sowjetkongreß über die Frage der Macht entscheiden soll; wenn die Regierung die Garnison zerschlagen will, um den Sowjet daran zu hindern, Macht zu werden; wenn die Garnison, ohne den Sowjetkongreß abzuwarten, sich weigert, der Regierung zu so bedeutet das ja dem Wesen nach, der Aufstand habe begonnen, ohne den
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