Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
kein Mangel.
Nach dem Hinzukommen der Bauerndeputierten setzte sich endlich die Kolonne über den Newski in Bewegung. An der Spitze schreiten aus: Oberbürgermeister Schreider und Minister Prokopowitsch. Unter den Teilnehmern entdeckte John Reed den Sozialrevolutionär Awksentjew, den Vorsitzenden des Bauern-Exekutivkomitees, und die menschewisti-schen Führer Chintchuk und Abramowitsch, von denen der erste als Rechter, der zweite als Linker galt. Prokopowitsch und Schreider trugen zwei Laternen: so war es telephonisch mit den Ministern verabredet worden, damit die Junker die Freunde nicht für Feinde hielten. Prokopowitsch trug außerdem einen Regenschirm, übrigens wie viele andere. Geistlichkeit war nicht dabei. Die Geistlichkeit hatte die arme Phantasie der Junker aus nebelhaften Umrissen vaterländischer Geschichte geschaffen. Aber auch Volk war nicht da. Sein Fehlen bestimmte den Charakter des ganzen Vorhabens: drei- bis vierhundert "Vertreter", aber niemand von denen, die sie vertraten. "Es war eine finstere Nacht", erinnert sich der Sozialrevolutionär Sensinow, "die Laternen auf dem Newski brannten nicht. Wir gingen in geordneter Prozession, und man vernahm nur unseren Gesang der Marseillaise. Aus der Ferne tönten Kanonenschüsse: die Bolschewiki setzten die Beschießung des Winterpalais fort."
Am Jekaterininski-Kanal erstreckt sich quer über den Newski-Prospekt eine Kette bewaffneter Matrosen, die der Kolonne der Demokratie den Weg versperrt. "Wir werden vorwärtsmarschieren", erklären die Geweihten, "was könnt ihr mit uns machen?" Die Seeleute antworteten ihnen ohne Umschweife, sie würden Gewalt anwenden: "Geht nach Hause und laßt uns in Ruhe." Einer der Prozessionsteilnehmer machte den Vorschlag, sofort hier, an Ort und Stelle, umzukommen. Doch in dem durch namentliche Abstimmung in der Duma gefaßten Beschluß war diese Variante nicht vorgesehen. Minister Prokopowitsch kletterte auf irgendeine Erhöhung und wandte sich "mit dem Regenschirm fuchtelnd"
- im Herbst sind in Petrograd Regen häufig - an die Demonstranten mit dem Appell, diese finsteren, irregeleiteten Menschen, die tatsächlich zur Waffe greifen könnten, nicht in Versuchung führen. "Kehren wir in die Duma zurück, die Mittel zur Rettung des Landes und der Revolution zu besprechen."
Das war ein wahrhaft weiser Vorschlag. Allerdings blieb der ursprüngliche Plan dadurch unausgeführt. Doch was ist mit bewaffneten Grobianen anzufangen, die die Führer der Demokratie hindern, heroisch zu sterben. "Wir blieben eine Weile stehen, froren durch und durch und beschlossen, umzukehren", schreibt melancholisch Stankewitsch, gleichfalls ein Teilnehmer der Prozession. Nunmehr ohne Marseillaise, im Gegenteil, in geballtem Schweigen, begab sich die Prozession durch den Newski zurück zum Dumagebäude. Dort sollte sie endlich die "Mittel zur Rettung des Landes und der Revolution finden".
Nach Einnahme des Winterpalais beherrschte das Militärische Revolutionskomitee die Hauptstadt vollständig. Aber wie bei einer Leiche Nägel und Haare weiterwachsen, so zeigten sich bei der abgesetzten Regierung Lebenszeichen vermittels der offiziellen Presse. Der Bote der Provisorischen Regierung, der noch am 24. über Entlassung der Geheimräte "mit Uniform und Pension" berichtet hatte, verstummte plötzlich am 25., was allerdings niemand bemerkte. Am 26. erschien er wieder, als sei nichts geschehen. Auf der ersten Seite hieß es: "Wegen Unterbrechung des elektrischen Stromes ist die Nummer vom 25. nicht erschienen." In allem übrigen, mit Ausnahme des Stromes, ging das Staatsleben seine geordneten Bahnen weiter, und der Bote der in der Trubetzkoj-Bastion befindlichen Regierung berichtete über die Ernennung eines Dutzend neuer Senatoren. In der Rubrik "Administrative Nachrichten" empfahl ein Zirkular des Innenministers Nikitin den Gouvernementskommissaren, "sich durch falsche Gerüchte über Ereignisse in Petrograd, wo alles ruhig ist, nicht irreführen zu lassen". Der Minister hatte nicht gar so unrecht: die Tage der Umwälzung verliefen ziemlich ruhig, sieht man von der Kanonade ab, die sich überdies auf akustische Effekte beschränkte. Und doch wird der Geschichtsschreiber nicht irren, der behauptet, am Tage des 25. Oktober habe nicht nur der Strom in der Regierungsdruckerei aufgehört, sondern auch eine wichtige Seite in der Geschichte der Menschheit begonnen.
Kapitel 23: Oktoberaufstand
Naturgeschichtliche Analogien in bezug auf die Revolution
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