Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Partei handelt, kann man sich keine tiefere Kluft vorstellen als die, die Stalin von Lenin trennt, sowohl in Kernfragen der revolutionären Konzeption wie auch in der politischen Psychologie. Stalins opportunistische Natur wird dadurch maskiert, daß er sich auf eine siegreiche proletarische Revolution stützt. Doch sahen wir Stalins selbständige Position im März 1917: im Rücken die schon vollzogene bürgerliche Revolution, stellte er als Aufgabe der Partei hin "Bremsung der Absplitterung" der Bourgeoisie, das heißt, er widersetzte sich faktisch der proletarischen Revolution. Daß sie geschah, ist nicht seine Schuld. Zusammen mit der gesamten Bürokratie stellte sich Stalin auf den Boden der Tatsache. Gibt es die Diktatur des Proletariats, dann muß es auch Sozialismus geben. Indem er die Argumente der Menschewiki gegen die proletarische Revolution in Rußland nach der Kehrseite wendete, begann Stalin, sich durch die Theorie des Sozialismus in einem Lande gegen die internationale Revolution abzugrenzen. Und da er prinzipielle Fragen niemals bis zu Ende durchdachte, so mußte es ihm scheinen, er habe "eigentlich" stets so gedacht wie im Herbst 1924. Und da er darüber hinaus sich niemals in Gegensatz zu der herrschenden Parteistimmung gestellt hatte, so mußte es ihm scheinen, die Partei habe "eigentlich" ebenso gedacht wie er. Ursprünglich hatte die Unterstellung unbewußten Charakter. Es ging nicht um Fälschung, sondern um ideologische Mauserung. Aber in dem Maße, wie die Doktrin des nationalen Sozialismus auf eine gut ausgerüstete Kritik stieß, wurde eine organisierte, hauptsächlich chirurgische Eimischung des Apparates notwendig. Die Theorie des nationalen Sozialismus wurde dekretiert. Man begann, sie mit der Methode vom Entgegengesetzten zu beweisen: durch Verhaftungen jener, die sie nicht teilten. Gleichzeitig begann eine Ära der systematischen Umarbeitung der Parteivergangenheit. Die Parteigeschichte verwandelte sich in ein Palimpsest. Die Zerstörung der Pergamente geht bis auf den heutigen Tag, und zwar mit immer wachsender Raserei.
Von entscheidender Bedeutung waren immerhin nicht die Repressalien und Fälschungen. Der Triumph der neuen Ansichten, die der Lage und den Interessen der Bürokratie entsprechen, stützte sich auf objektive - vorübergehende, aber sehr mächtige - Umstände. Die Möglichkeiten, die sich vor der Sowjetrepublik innen- wie außenpolitisch eröffneten, erwiesen sich viel größer, als es jemand vor der Umwälzung hätte glauben können. Der isolierte Arbeiterstaat blieb nicht nur inmitten einer Unzahl von Feinden bestehen, sondern stieg auch ökonomisch. Diese schwerwiegenden Tatsachen formten die gesellschaftliche Meinung der jungen Generation, die noch nicht gelernt hat, historisch zu denken, das heißt, Vergleiche zu ziehen und vorauszusehen.
Die europäische Bourgeoisie hatte sich am letzten Krieg zu stark verbrannt, um sich leicht zu einem neuen zu entschließen. Die Angst vor revolutionären Folgen paralysierte bis jetzt die Pläne einer kriegerischen Einmischung. Doch ist der Angstfaktor kein dauerhafter Faktor. Eine drohende Revolution hat noch niemals die Revolution selbst ersetzt. Eine Gefahr, die sich lange nicht realisiert, verliert ihre Wirkung. Gleichzeitig strebt der unversöhnliche Gegensatz zwischen dem Arbeiterstaat und der Welt des Imperialismus nach außen durchzubrechen. Die Ereignisse der jüngsten Zeit sind derart beredt, daß die Hoffnungen auf eine "Neutralisierung" der Weltbourgeoisie bis zur Vollendung des sozialistischen Aufbaus heute von der regierenden Fraktion aufgegeben sind; im gewissen Sinne haben sie sich sogar in ihren Gegensatz verwandelt.
Die während der Friedensjahre erreichten industriellen Erfolge bilden für alle Zeiten einen erkämpften Beweis für die unvergleichlichen Vorteile der Planwirtschaft. Diese Tatsache steht in keinem Widerspruch zum internationalen Charakter der Revolution: der Sozialismus könnte sich auch in der Weltarena nicht verwirklichen, wenn seine Elemente und Stützpunkte in den einzelnen Ländern nicht vorbereitet sind. Es ist kein Zufall, daß gerade die Gegner der Theorie des nationalen Sozialismus die Verfechter der Industrialisierung, des Planprinzips, des Fünfjahrplanes und der Kollektivisie-rung waren. Den Kampf um eine kühne Wirtschaftsinitiative bezahlt Rakowski und mit ihm Tausende anderer Bol-schewiki mit Jahren Verbannung und Gefängnis. Aber andererseits waren sie es auch, die sich als erste
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