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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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vorgesehenen Zeremonien setzten sich aus unlösbar miteinander verbundenen religiösen und patriotischen Bestandteilen zusammen. So hatte er den Zeitpunkt nach dem Freitagsgebet gewählt, an dem alle Deputierten in der Moschee des Hacı Bayram teilzunehmen hatten «und in dessen Verlauf das Licht des Korans und des Aufrufs zum Gebet sich auf die Gläubigen ergießen werde». Danach sollte das XVI. Armeekorps Aufstellung nehmen. Anschließend waren die Opferung von Hammeln sowie die Präsentation der Heiligen Fahne und eines Behälters mit dem Barthaar des Propheten vorgesehen. Der Einsatz dieser Reliquien zeigt, dass man nicht versäumte, die alten Instrumente der osmanischen Herrschaftslegitimation vorzuführen. Sehr beengt und zunächst ohne Heizung tagte die
Meclis
unweit der Moschee im Klubhaus der ehemaligen Ortsgruppe der «Gesellschaft für Einheit und Fortschritt».
    Am 10. April 1920 erklärte der Scheichülislam, die höchste islamrechtliche Autorität am Sitz des Kalifen, alle am nationalen Widerstand Beteiligten zu Ungläubigen, «deren Tötung notwendig» sei. Atatürk veranlasste daraufhin den
Müftü
von Ankara, Rifat Efendi, zu einem berühmten «Gegen-Fetva», das von anderen lokalen Rechtsgelehrten mit unterzeichnet wurde (Rifat wurde später ein getreuer, alle Reformen mittragender Gefolgsmann Atatürks). Nun galt es, die Loyalität der anatolischen
Meclis
zu Sultan und Kalif allgemein bekannt zu machen. Ein entsprechendes Rundschreiben sollte «in Form großer Plakate öffentlich ausgehängt und an den Orten, wo dies möglich ist, gedruckt, vervielfältigt und kostenlos verteilt werden». Die Behörden wurden aufgefordert, alle Mittel anzuwenden, damit die Nachricht in die entlegendsten Dörfer, zu den kleinsten Truppenabteilungen und allen Organisationen und Institutionen des Landes gelangen konnte. Die Lesungen von Koran, Hadith (Überlieferungen von Worten und Taten Muhammads) und
Mevlûd
(Texte zum Prophetenleben) zur Eröffnung der
Meclis
sollten sich nicht auf Ankara und die osmanischen Städte beschränken, sondern im ganzen Land veranstaltet werden.
    Bei der Eröffnung der Großen Nationalversammlung waren sich die Teilnehmer der Besonderheit des Tages bewusst. Ob sie aber ahnten, dass sie im Dienste einer Revolution ohne sichtbare Revolutionäre tätig waren, muss bezweifelt werden. Atatürk hätte gewiss die überwältigende Unterstützung der anatolischen Religionsgelehrten (
ulema
) verloren, wenn er nicht seinen Aufruf zur Eröffnung einer Nationalversammlung mit der Notwendigkeit der «Befreiung des Kalifats und Sultanats» von alliierter Vorherrschaft begründet hätte. Aus dieser «Gefangenschaft» des Sultan-Kalifen konnte er den Anspruch der Versammlung in Ankara ableiten, die oberste Behörde aller Zivil- und Militäreinrichtungen des Osmanischen Staates zu bilden, der selbstverständlich auch Thrakien (Ost-Thrakien wurde erst im Juli 1920 von griechischen Truppen okkupiert) einschloss. Auch das Programm des ersten Ministerrats, dessen Vorsitz Atatürk innehatte und der sich als ein «Ausschuss der Vollzugsbevollmächtigen», das heißt als Ausführungsorgan der Versammlung, verstand, betonte als Ziel noch ausdrücklicher das Wohl des Vaterlands, die Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit von Kalifat und Sultanat sowie die Erlösung der Hauptstadt aus der Gefangenschaft. Am Tag nach der feierlichen Eröffnung wählten 110 der anwesenden 120 Deputierten Atatürk zum Vorsitzenden. Niemand konnte wissen, dass er ohne Unterbrechung bis zu seinem Tode Ende 1938 an der Spitze des neuen Systems stehen würde. Am 28. April, zu einem Zeitpunkt, als die Provinz İzmir in griechische, die Umgebung von Antalya in italienische und Antep (heute: Gaziantep), Maraş (Kahramanmaraş) und Urfa (Şanlıurfa) in französische Hände gefallen waren, warnte er davor, «gekauften Verrätern» Glauben zu schenken, die von einem Aufstand der
Meclis
gegen den
Padişah
(Sultan) und
Halife
(Kalif) sprächen. «Der Fluch Gottes sei über den Verrätern, die dem Feinde beistehen!»
    Wenige Tage später wurde eine Erklärung des
Meclis
-Ausschusses für religiöses Recht veröffentlicht, die sich nicht nur an die Mitbürger, sondern an die gesamte islamische Welt richtete. Der Text begründete die Legitimität des Regimes mit Koranstellen wie «Und tötet sie, wo (immer) ihr sie zu fassen bekommt,und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben!» (Sure 2, 191). Nach der Ausrufung des

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