Geschichte der Tuerkei
Belagerungszustands in Istanbul und der Einrichtung von Kriegsgerichtshöfen mache man sich daran, die islamische Nation nach «britischen Gesetzen» abzuurteilen und zu bestrafen. Die Engländer würden in den besetzten Gebieten mit nichtmuslimischen Untertanen zusammenarbeiten und sie dazu aufstacheln, die Muslime zu töten, die Ehre ihrer Mädchen und Frauen zu verletzen und Heiligtümer samt dem Buch Gottes herabzuwürdigen. Der Appell endet mit der koranischen Maxime «Helft einander zur Frömmigkeit und Gottesfurcht», um das Kalifat als Zufluchtsort von mehr als 300 Millionen Muslimen nicht im Stich zu lassen. Am 9. Mai 1920 stand das Programm des ersten Ministerrats mit 11 Ressortministern fest. Dieses Kabinett definierte sich als ein «Rat von Vollzugsbeauftragten», der ohne Trennung zwischen Exekutive und Legislative den Willen der Nation repräsentierte. Entsprechend wurden die Vollzugsbeauftragten von der
Meclis
in Einzelabstimmungen gewählt. Die Spannungen zwischen den Kemalisten und der Istanbuler Regierung unter dem Großwesir Damad Ferid Paşa, der in ihnen nicht zu Unrecht Wiedergänger der aufgelösten «Gesellschaft für Einheit und Fortschritt» erkannte, erreichten nun ihren Höhepunkt. Am 11. Mai 1920 verurteilte das oberste Kriegsgericht Mustafa Kemal (Atatürk), den Müftü Rifat Efendi, Ali Fuad (Cebesoy) und das Gelehrten-Schriftstellerpaar Adıvar zum Tode.
Die durchaus uneinheitliche Zusammensetzung der ersten TBMM – ehemalige Politiker der nationalistischen «Gesellschaft für Einheit und Fortschritt», sogenannte «Liberale» und Religionsmänner – spiegelte sich in den Stimmen für Atatürks Stellvertreter. Zum Vizepräsidenten wurde mit 109 Voten der Jurist Celaleddin Arif gewählt, der zu den Mitgliedern einer kleinen Partei gehörte, die kaum über die Istanbuler Mittelschicht hinaus bekannt war. Seine Gegnerschaft zu Atatürk sollte sehr bald zu seiner Marginalisierung und Exilierung führen. Ein Beispiel für das besondere Gewicht von Religionsgelehrten und Mitgliedern der mystischen Bruderschaften ist der mit der drittgrößten Stimmenzahl in das Präsidium gewählte AbdülhalimEfendi. Als
Çelebi
war er das Oberhaupt der Mevleviye-Bruderschaft, die ihren Stammsitz Konya noch vor dem Auftreten des Hauses Osman in Anatolien eingenommen hatte. Auch der höchste Repräsentant der heterodoxen Bektaşî-Gemeinschaft, Scheich Cemaleddin, war als Abgeordneter von Kırşehir gewählt und erhielt im ersten Wahlgang 31 Stimmen.
Das Bild dieser
Meclis
war zwar längst nicht mehr so bunt wie das der osmanischen Parlamente vor 1918, doch war jedermann bewusst, dass man es mit unterschiedlichen Volksgruppen zu tun hatte. In seiner Rede vom 1. Mai definierte Atatürk eine multiethnische, aber religiös homogene Staatsbevölkerung. «Die Personen, die unsere Hohe Ratsversammlung bilden, sind nicht allein Türken, nicht allein Tscherkessen, nicht allein Kurden, nicht allein Lasen.» Er betonte ausdrücklich, dass diese «einander aufrichtig zugetane» (
samîmî
) Gemeinschaft nicht aus
einer
muslimischen Volksgruppe, sondern aus
mehreren
Elementen zusammengesetzt sei. Zu den nationalen Grenzen bemerkte er, dass diese südlich von İskenderun verliefen und Mosul, Süleymaniye und Kirkuk einschlössen, denn nördlich wie südlich von Kirkuk lebten sowohl Türken als auch Kurden.
In den ersten Monaten verschafften sich Abgeordnete mit moralischen und religiösen Anliegen Gehör. Themen waren unter anderem ein erfolgreicher Gesetzesvorschlag zum Verbot von Alkohol und ein verschärftes Ehrenschutzgesetz für den Propheten Muhammad. Die Aufhebung des Sultanats (siehe S. 37) oder gar des Kalifats (siehe S. 40) standen jedenfalls noch nicht auf der Tagesordnung. Mit seinem Vorschlag, der
Meclis
einen Namen wie «Gründerversammlung» zu geben, konnte sich Atatürk nicht durchsetzen, auch wenn bei manchen Deputierten in den folgenden Jahren das Gefühl die Oberhand gewann, Mitglied einer revolutionären
Assemblée Nationale
nach französischem Muster zu sein. Wie diese beanspruchte die
Meclis
außerordentliche Vollmachten und tagte, ohne Parlamentsferien einzulegen. Obwohl Frankreich noch große Landesteile im Südosten besetzt hielt, zeigen diese Beispiele, dass der Kalender der Französischen Revolution samt ihren Personen und Institutionen nach wie vor ein Referenzsystem fortschrittlicher Osmanen bildete. AuchAtatürk verglich noch im Juli 1922 den Kampf des anatolischen Volkes mit
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