Geschichte der Tuerkei
dem der Franzosen nach der Revolution gegen ihre reaktionären Feinde.
In der TBMM standen sich zwei «Gruppen» wie die Fraktionen von konkurrierenden politischen Parteien gegenüber. Die offizielle republikanische Geschichtsschreibung würdigte die von Atatürk dominierte «Erste Gruppe» als durch und durch fortschrittlich und denunzierte die «Zweite Gruppe» als reaktionär und noch tief im osmanischen System verwurzelt. Ebenfalls stark überzeichnet wurde das soziale Profil beider Gruppen: So wollten Autoren die Erste Gruppe vor allem mit Exponenten des Militärs und der Bürokratie gleichsetzen, während sie die Zweite mit Gewerbetreibenden aus der Provinz und Grundbesitzern verbanden. In Wirklichkeit fanden sich, wie der Historiker Ahmet Demirel zeigen konnte, in beiden Lagern – mit Ausnahme der Nichtmuslime – Vertreter aller Gesellschaftsschichten. Tatsächlich war die Fraktionsbildung also stärker von persönlichen Vorlieben und Interessen als von ideologischen Differenzen geprägt. Fest steht aber auch, dass in der Zweiten Gruppe dezidierte Anhänger von Sultanat und Kalifat überwogen. Hier versammelten sich alle diejenigen Abgeordneten, die Atatürk den Weg zur Diktatur verbauen wollten, persönlich Unzufriedene und sogar Radikale, die die aufgelöste «Gesellschaft für Einheit und Fortschritt» wiederbeleben wollten. Zwischen diesen beiden Gruppen stand noch eine 1923 von Atatürk als «Haufen reaktionärer Opportunisten» gegeißelte, überwiegend aus islamischen Gelehrten bestehende Schar von Abgeordneten. Als gemeinsamen Nenner aber kann man festhalten, dass niemand in dieser ersten
Meclis
die Wiedergewinnung der Souveränität innerhalb der Grenzen des «Nationalpakts» (siehe S. 25) in Frage stellen wollte.
Die Opposition zur Ersten Gruppe verwahrte sich auch gegen ein Wahlverfahren, bei dem nur Personen auf einer von der Regierung aufgestellten Liste wählbar waren.
Durch ein Gesetz vom 11. Juli 1920 wurden «Unabhängigkeitsgerichte» geschaffen, deren Zuständigkeit ursprünglich auf dieVerfolgung von Fahnenflüchtigen beschränkt war, dann jedoch zügig auf Straftaten wie Hochverrat, Spionage und andere Delikte Ausdehnung fand. Am selben Tag, an dem Atatürk angesichts der griechischen Invasion zum Oberkommandierenden mit fast unbegrenzten Vollmachten für drei Monate gewählt wurde, wurden ihm auch diese Sondergerichte unmittelbar unterstellt. Kurz danach erhielt er das Vorrecht, ausgeschiedene Meclis-Mitglieder selbst zu ersetzen. Die Opposition wehrte sich spätestens seit Anfang 1922 heftig gegen diese Maßnahmen. Am 14. Januar 1922 wies der Jurist Hüseyin Avni (Ulaş 1887–1948) in Geheimer Sitzung auf die 350 existierenden normalen Gerichte hin: «Auch die Revolution hat eine Rechtsordnung; auch der Ausnahmezustand hat ein Recht.» Die Mehrheitsvertreter antworteten mit dem Hinweis auf die nahe Front und die offene Pontos-Frage (siehe S. 23). Zahlreiche Verletzungen von Grundrechten wie etwa die Einschränkung der Publikationsfreiheit waren Vorzeichen des autoritären Regimes. Nur in Istanbul konnte sich die Opposition auf Presseorgane wie
Tan
oder
Tevhid-i Efkar
stützen. Atatürk sorgte jetzt dafür, dass die ihm kritisch gegenüberstehenden Abgeordneten bei der Wahl zur 2.
Meclis
im August 1923 nicht mehr aufgestellt wurden. An ihr nahmen nur noch 123 der 437 zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der 1. TBMM vertretenen Abgeordneten teil; unter ihnen befand sich kein einziges Mitglied der Zweiten Gruppe mehr. Ein für alle oppositionellen Stimmen schmerzhafter, sich über fast drei Jahre hinziehender Prozess hatte seinen Abschluss gefunden: Die Macht, die sich zunächst von der TBMM auf die Regierung verlagert und der Opposition nur wenig Atemluft gelassen hatte, war endgültig auf den Staatschef übergegangen.
Die geschilderten Vorgänge in Ankara fanden vor der Kulisse der griechischen Invasion statt. Venizelos, der am 21. Juni 1919 erneut von den Alliierten «grünes Licht» erhalten hatte, seine expansive Politik fortzusetzen, gab der griechischen Armee den Befehl, die nach dem britischen Kommandanten Milnes genannte Trennungslinie zu überschreiten. Am 8. Juli 1920 fiel mit Bursa die Stadt, welche als Wiege der osmanischen Dynastie höchsten Symbolwert besaß. Ende Juli war auch ganz Ost-Thrakienin griechischer Hand. Der zeitliche Zusammenhang zwischen den Kämpfen gegen die Anhänger des Kalifats und dem griechischen Vormarsch hat in der kemalistischen
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