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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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Residenzen nicht mit dem Exil vertauschen müssen. Die Aussicht, dass auch noch im 500. Jahr nach der Eroberung Konstantinopels (1453) ein Sultan am Bosporus sitzen würde, schien im 465. Jahr nach dieser Epochenschwelle noch im Bereich des Möglichen. Die Istanbuler Tageszeitung
Minber
(«Rednerpult») kommentierte die harten Bedingungen von Mudros mit einigem Verständnis und wies vor allem auf die Tausende junger Menschen hin, die dem Krieg sonst weiterhin täglich zum Opfer fielen: Auch wenn ein Staat verkleinert werde, bewahre er dennoch seine politische Existenz und seine nationale Einheit.
    Zu den Autoren von
Minber
gehörte jener Mustafa Kemal Paşa, der unter dem späteren Namen Atatürk das Schicksal der Türkei prägen sollte. Schon bei Kriegsende war er ein bekannter Befehlshaber. In der Dardanellen-Schlacht von 1915 hatte er einen entscheidenden Beitrag bei der Zurückschlagung der Commonwealth-Truppen geleistet, die schon Teile der Halbinsel von Gallipoli besetzt hatten. Danach wurde er mit wichtigen Kommandos im Osten des Reichs betraut. Atatürk, der wohl 1881 (das genaue Geburtsdatum ist nicht bekannt) in Saloniki, der größten osmanischen Stadt auf dem Balkan, als Sohn kleiner Leute zur Welt gekommen war, hatte Militärschulen in seiner Heimatstadt, in Monastir/Bitola und in Istanbul besucht. In den letzten Jahren des repressiven Regimes von Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876–1909) war er Teil des oppositionellen jungtürkischen Netzwerkes gewesen. Im nordafrikanischen Tripolis hatte er sich 1911 an dem aussichtslosen Kampf gegen die italienische Besetzung der letzten osmanischen «Überseedepartments» beteiligt. Lektüren, Gespräche und Reisen in europäische Städte (Paris, Wien, Berlin) sowie ein längerer Aufenthalt als Militärattaché in Sofia machten ihn nicht nur zum entschiedenen Anhänger westlicher Lebensformen, sondern auch zu einem wissenschaftsgläubigen Positivisten.
    Bis zum Waffenstillstand waren große Teile der osmanischen Provinzen, insbesondere das innere Anatolien, der Schwarzmeerraum, der Südkaukasus, das Armenische Hochland, Kurdistan und Obermesopotamien, von keinem alliierten Soldatenbetreten worden. Nachdem die osmanischen Armeen große Verluste (etwa 325.000 Gefallene, 350.000 Verwundete?) erlitten hatten, standen 1918 nominell noch 560.000 Mann unter Waffen. Anfang 1919 jedoch war die Armee auf einen kümmerlich bewaffneten Rest zusammengeschrumpft. Die Zukunft des Landes hing von ihrer Reorganisation ab. Ihre Befehlshaber hatten zwar auf drei Kontinenten im Jemen, in Albanien und Tripolitanien für Sultanat und Kalifat gekämpft, sie verband aber die Einsicht, dass der Rückzug auf das kleinasiatische Kernland unvermeidlich war. Dabei kannte Atatürk die «Asiatische Türkei» in den ersten drei Jahrzehnten seines Lebens nur aus dem Atlas.
    Die für den Kriegseintritt an der Seite Deutschlands verantwortlichen jungtürkischen Triumvirn Enver Paşa, Cemal Paşa und Talat Bey sowie andere an den Armenier-Massakern beteiligte Befehlshaber und Politiker waren kurz nach dem Waffenstillstand auf einem deutschen Schiff nach der Krim und von dort aus nach Berlin geflüchtet. Atatürk war zu diesem Zeitpunkt von seinem letzten Kommando aus Syrien zurückgekehrt. Als Adjutant des Sultans hatte er Zugang zu Sultan Mehmed VI. Vahdeddin (1918–1922), mit dem er am 15. November das erste von vier Gesprächen führte und sich vergeblich um das Amt des Kriegsministers bewarb. Tage später veranstaltete der Kommandant der alliierten Orient-Armee Franchet d’Esperey eine triumphale Parade unter den blau-weißen Fahnen, die die Wohnviertel der griechischen Minderheit von Beyoğlu beherrschten. Die Sieger nutzten in der Folge die rechtswidrige
de facto
Besetzung Istanbuls als wichtigstes Druckmittel, um nach einem Friedensvertrag ihre Interessen durchzusetzen.
    Noch vor Ende 1918 löste sich das osmanische Parlament auf. England und Frankreich hatten sich im Sykes-Picot-Abkommen (16. Mai 1916) über «Einflusszonen und Territorialerwerbungen» im ostarabischen Raum verständigt. Griechenland war im Sommer 1917 der Entente beigetreten und verkündete jetzt seinen Anspruch auf ganz Thrakien und Teile des westlichen Anatolien. Am 14. März 1919 genehmigte der Oberste Rat der Pariser Friedenskonferenz den Plan einer griechischen Landung inKleinasien. Zwei Tage später stellte die griechische Gemeinde Istanbuls die Beziehungen zur osmanischen Regierung wie zu einem fremden Staat

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