Geschichte der Tuerkei
Geschichtsschreibung zu der bitteren Auffassung geführt, dass die Griechen ihre Siege dem Sultan-Kalifen verdankten. Es ist unstrittig, dass für Istanbul die Bekämpfung der Gegenregierung höchste Priorität hatte. Bei aller persönlichen Schwäche war der Sultan aber nicht unbedingt bereit, wie man ihm vereinfachend vorgeworfen hat, die Souveränität des Landes dem Erhalt der Dynastie zu opfern. Die Ankara unterstellten anatolischen Kräfte bestanden aus regulären Armeeeinheiten und Volksmilizen (
Kuva-i Milliye
). Sie waren zunächst weniger mit der griechischen Invasionsarmee beschäftigt, die sich im Großraum İzmir verhältnismäßig bedeckt hielt, als mit den Aktionen der als Kalifatsarmee geläufigen «Ordnungskräfte» (
Kuva-i İnzibatiye
), einer am 18. April 1920 aufgestellten, auf 4000 Mann geschätzten Truppe, die allerdings schon zwei Monate später aufgelöst wurde. Dazu kam eine Anzahl lokaler Revolten, für die ganz verschiedene Sorten von Unruhestiftern verantwortlich gemacht wurden: lokale Begs, Stammesführer, Kurden und tscherkessische Warlords.
Der griechische Vorstoß erfolgte noch bevor der Friedensvertrag von Sèvres am 10. August 1920 von einer osmanischen Delegation unterzeichnet worden war. Sèvres bedeutete, wenn man von den nach der Oktoberrevolution weggefallenen russischen «Einflussgebieten» einmal absieht, im Großen und Ganzen die Fortsetzung der verschiedenen geheimen Abkommen über die Aufteilung der Türkei aus den Weltkriegsjahren. Dabei waren die Alliierten noch weit über die Pariser Vorortverträge mit Deutschland (Versailles), Deutsch-Österreich (St.-Germain-en-Laye), Bulgarien (Neuilly) und Ungarn (Trianon) hinausgegangen. Der Vertrag mit der Türkei diktierte einen weitgehend auf die Hochflächen des westlichen und mittleren Anatolien reduzierten Staat, dessen Hauptstadt, freilich auf Abruf, Istanbul bleiben sollte. Nach einer vorübergehenden Lokalautonomie sollten die Kurden über die Loslösung von der Türkei entscheiden. Die nach dem US-Präsidenten benannten, erst am 22. November 1922publizierten Wilson-Grenzen sahen unter anderem die Abtretung von 42.000 km 2 osmanischen Territoriums an die mittlerweile (18. Mai 1918) gebildete Republik Armenien vor. Dass es zahlreiche Überschneidungen der kurdischen mit den armenischen Gebietsansprüchen gab, war unvermeidlich. England wollte sich vor allem für den von ihm kontrollierten Retortenstaat «Irak» das südliche Kurdistan sichern. Besonders demütigend für die Türkei waren die Bestimmungen über İzmir. Die inzwischen von griechischen Truppen besetzte Stadt sollte vorerst türkischer «Souveränität» unterstellt werden, wobei sich die Rechte der Türkei aber darauf beschränkten,
eine
Staatsflagge auf
einem
von den Alliierten noch zu bestimmenden,
außerhalb
der Stadt gelegenen Fort zu hissen. Auch wenn der Vertrag von Sèvres nie ratifiziert wurde, blieb er bis heute aus türkischer Sicht das Symbol spätosmanischer Willfährigkeit, armenisch-griechischer Maßlosigkeit und imperialistischer Dominanz.
Derartig bedrängt wandte sich Ankara an Moskau. Ein türkisch-sowjetischer Vertragsentwurf scheiterte im August des Jahres zunächst an der Forderung von Außenminister Čičerin, Teile der Provinzen Van und Bitlis an Armenien zu übergeben. Am Ende stand aber die Zusage, die Türkei mit 5 Millionen Goldrubel zu unterstützen. Der türkische Verhandlungsführer Yusuf Kemal (Tengirşek) reiste mit einer ersten Rate in Höhe von 1 Million Rubel im September aus Moskau ab. In Ankara fehlten allerdings nicht nur Geld und Waffen, das neue Regime litt zudem unter einem erheblichen Mangel an Kämpfern. Abhilfe sollte das schon erwähnte Gesetz über Unabhängigkeitsgerichte bringen.
Im Nordosten nahm Kâzım Karabekir mit seinem weitgehend intakt gebliebenen XV. Armeekorps den Kampf gegen eine Offensive der Armenischen Republik auf. Er besetzte Oltu, Sarıkamış, Kağızman und am 30. Oktober 1920 das wichtige Kars. Die Situation im Kaukasus war ziemlich verwirrend. So hatten in Paris die drei kurzlebigen Republiken Armenien, Georgien und Aserbaidschan Anspruch auf den Raum Oltu erhoben. Am 2. Dezember kam der (nicht ratifizierte) Friedensvertrag von Alexandropol zwischen Armenien und der Türkei zustande, derengemeinsame Grenze im Moskauer «Freundschafts- und Brüderlichkeitsvertrag» vom 16. März 1921 dann verbindlich festgelegt wurde.
Nach einer langen Stillhalteperiode im Vorjahr spielten
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