Geschichte der Tuerkei
werden sollte. Die Lehrer, denen man ein zweiräumiges Wohnhaus mit Kuh- und Hühnerstall zuweisen wollte, sollten selbstgenügsam für Aufwendungen und Erträge dieses Betriebs verantwortlich sein. Prinzipiell sprachen sich die Teilnehmer von İzmir nicht gegen die Beteiligung ausländischen Kapitals aus, und auch der Kongress insgesamt befürwortete eher einen moderaten Protektionismus als ein etatistisches Entwicklungsmodell.
Wenig später verkündete die Volkspartei in Ankara «Zehn Prinzipien», unter denen sich zahlreiche strukturelle Vorhaben befanden. Auch hier wurde die Abschaffung des Zehnten und zum Ausgleich eine stärkere steuerliche Belastung der städtischen Bevölkerung propagiert. Aus heutiger Sicht ist auffällig, dass weder in İzmir noch in Ankara von einer Absenkung des Entwicklungsgefälles von West nach Ost die Rede war. Obwohl der Kongress eine mehr symbolische als praktische Bedeutung hatte, bildete er eine wichtige Station dieser Epoche. Unter denInfrastrukturmaßnahmen hatte die Eisenbahn als Verkehrsträger nicht nur in Absichtserklärungen, sondern auch in der Realität höchste Priorität. Der Staat begann zügig, Strecken, die im Besitz ausländischer Gesellschaften waren, anzukaufen. So wurden 1924 die Hafenanlagen von Istanbul-Haydarpaşa und wichtige anatolische Bahnlinien wie die Strecke von Istanbul nach Ankara nationalisiert; 1928 folgte die Mersin-Tarsus-Adana-Bahn. Es lässt sich nicht immer deutlich sagen, ob die Eisenbahnpolitik dieser Jahre mehr von strategischen als von entwicklungspolitischen Zielen bestimmt war. İsmet İnönü nannte jedenfalls in einer Rede die «Eisenbahnen eine wichtigere Sicherungswaffe als Gewehr und Kanonen» und betonte in seinen Memoiren, dass die Dersim-Frage (siehe S. 57) am Ende mit Hilfe der Eisenbahn gelöst worden sei.
Auch die Eröffnung der ersten rein türkischen Geschäftsbank folgte den Empfehlungen von İzmir. Die
Türkiye İş Bankası
sollte als erste türkische Bank nach der Gründung der Republik mit Privatkapital ausgestattet werden und ausschließlich türkisches Personal beschäftigen. Bewusst wurde der zweite Jahrestag (26. August 1924) nach der Offensive gegen Griechenland (siehe S. 36) als Gründungsdatum gewählt, um die angestrebte wirtschaftliche Unabhängigkeit sinnfällig mit den militärischen Siegen zu verknüpfen. Celal Bayar (1883–1986), Atatürks neuer Wirtschaftsminister, wurde der erste Generaldirektor der
İş Bankası;
er behielt das Amt bis 1932 (siehe S. 59). Atatürk investierte im Namen der Volkspartei 28 % des Grundkapitals, einen Betrag von 110.000 oder 125.000 Pfund Sterling, den die Muslime von Britisch-Indien (
All-India Muslim League
) zur Befreiung von İzmir bzw. zum Wiederaufbau Anatoliens gespendet hatten. Einflussreiche Politiker wurden hingegen ohne nennenswerte Einlagen zu «Teilhabern». Trotz ihrer privatrechtlichen Konstruktion hatte die Bank das Image eines Staatsunternehmens. Abgeordnete und Militärs nutzten ihren Einfluss, um schnelle Profite zu machen, so dass ihr französischer Beiname
Banque d’Affaires
sehr bald zu «Bank der üblen Geschäftemacher» (
affairistes
) umgedeutet wurde. Ein «Gesetz zur Förderung der Industrie» sollte ab 1927 gewisse fiskalische Erleichterungenfür moderne Betriebe ermöglichen, verpuffte aber schon wenige Jahre später, als die Einfuhrsteuern nach Wegfall bestimmter in Lausanne verordneter Einschränkungen wieder drastisch stiegen.
Bei aller Genugtuung über das Erzielte blieben noch wichtige Aufgaben für die türkische Außenpolitik. Die Staatsziele Kontrolle der Meerengen und Wiedergewinnung der Provinz Mosul und des
Sancaks
waren zunächst nicht aufgegeben worden. Aber schon mit dem britisch-türkisch-irakischen Mosul-Vertrag vom 5. Juni 1925 kam es zur Festlegung der «endgültigen und unverletzlichen» Grenze zum Irak. Der Irak erklärte sich im Gegenzug bereit, der Türkei 25 Jahre lang den Gegenwert von 10 % der Ölförderung in Kirkuk zu überweisen, einen Betrag, der bis 1985 ein Erinnerungsposten in der türkischen Haushaltsschätzung blieb. Der
Sancak
(siehe S. 20) fiel dann angesichts der sich eintrübenden politischen Wetterlage nach 1938 der Türkei fast in den Schoß. Deutschland, das nach dem verlorenen Weltkrieg alle Beziehungen zur Türkei abbrechen musste, konnte erst 1924 wieder diplomatische Beziehungen aufnehmen. Botschafter Nadolny erklärte, er komme «von einem neuen Deutschland zu einer neuen Türkei».
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