Geschichte der Tuerkei
herabsetzende Termini wie «Aufständische» oder «Banditen». İnönü warnte in einem Zeitungsartikel vom 31. August 1930: «In diesem Land verfügt nur die türkische Nation über das Recht, völkische Ansprüche zu erheben. Ansonsten hat niemand ein derartiges Recht.» Sein Justizminister Bozkurt wurde wenig später noch deutlicher: «Wer nicht von rein türkischer Abstammung ist, hat in diesem Land nur ein Recht: Diener zu sein, Sklave zu sein. Freund und Feind, ja selbst die [kurdischen] Berge sollen von dieser Wahrheit wissen.»
Die unter İnönü gebildete neue Regierung erließ am 4. März 1925 das einschneidende «Gesetz zur Wiederherstellung der Ordnung» (
Takrir-i sükun kanunu
) und verwandelte damit, nach zweimaliger Verlängerung bis 1929, die bis dahin halbwegs freiheitliche Republik in ein diktatorisches Staatswesen. Der kurdische Aufstand diente als willkommener Vorwand, um die erst vor einem halben Jahr gegründete TCF zu verbieten. Zudem ermöglichte das Gesetz die landesweite Unterdrückung von Zeitungen und Zeitschriften von links bis rechts. Ebenso willkürlich wurden Istanbuler Journalisten, denen man vorwarf, denAufstand angezettelt zu haben, verhaftet und verurteilt. Unter den verfolgten Kommunisten befand sich auch der Autor Nazım Hikmet (1902–1965).
Nachdem das Unabhängigkeitsgericht in Diyarbakır Scheich Said und 47 seiner Anhänger wegen «Ausbeutung und Unterdrückung der Armen durch Scheichs und feudale Landeigner» zum Tode verurteilt hatte, wurden bis zu 20.000 Kurden in westliche Landesteile deportiert. Den Osten vertraten im kommenden Vierteljahrhundert in der TBMM nicht mehr Politiker aus der Region, sondern Bürokraten und Militärs aus anderen Landesteilen. In diesem Zusammenhang wurde auch der seit dem Sturz von Abdülhamid II. politisch aktive kurdische Nakşbendi Said Nursi (um 1876–1960) inhaftiert und für Jahrzehnte an westanatolischen Verbannungsorten überwacht. Die von ihm gegründete «Heilige islamische Gemeinschaft» (
Mukaddes Cemaat-i İslamiye
) war ein Netzwerk von «Schülern» (
talib
), deren spirituelle Nahrung ein aus etwa hundert Postillen bestehendes «Sendschreiben von der Erleuchtung» (
Risale-i Nur
) darstellte. Es konnte unter den repressiven Bedingungen der Zeit nur handschriftlich und im Untergrund verbreitet werden. Diese von der Scheria geleitete
Cemaat
bildete später die Basis für die Bewegung des Fethullah Gülen (siehe S. 112).
Im Juni 1926 wurde in İzmir ein Attentatsversuch auf Atatürk aufgedeckt. In einem ersten Prozess standen fast alle wichtigen Paschas der Unabhängigkeitskriege vor dem Richter, von denen einige von den Plänen gehört haben mochten, ohne sie ernst zu nehmen. Insgesamt 15 Personen, unter ihnen ein General, endeten in İzmir am Galgen. In einem zweiten Verfahren in Ankara wurden drei hohe Mitglieder der «Gesellschaft für Einheit und Fortschritt», unter ihnen der ehemalige Finanzminister der Jungtürken, Cavid Bey, zum Tode verurteilt. Nach der Ausschaltung bzw. Einschüchterung der verbleibenden Opposition war der Weg frei für eine Serie beispielloser Umwälzungen auf rechtlichem, sozialem und kulturellem Gebiet. Die Reformen hatten jedoch durchaus Vorbilder. Manche bildeten seit Jahrzehnten den Diskussionsstoff muslimischer und christlicher Intellektueller in den osmanischen Ländern, etwa in Ägypten (Gleichstellungder Frau) oder bei den Russlandtürken (Latinisierung des Alphabets). Erst im Rückblick zeigt sich, dass die kemalistischen Neuerungen – mit Ausnahme des religiösen Bereichs – Gesetzesnormen erst durch massiven politischen Einsatz zu unumkehrbaren Fakten machten.
Eine außerordentlich folgenreiche Entscheidung, nach manchen die wichtigste der Kemalisten überhaupt, war das gleichzeitig mit der Abschaffung des Kalifats verabschiedete Gesetz mit dem unverfänglichen Namen «Über die Vereinheitlichung des Unterrichts». Mit diesem sollte das islamische Schulwesen schlagartig ausgetrocknet werden. Allerorten mussten staatliche Lehranstalten die Medresen ersetzen, an denen der Schwerpunkt auf dem Arabischen und den islamischen Traditions- und Rechtswissenschaften lag und zu denen Mädchen keinen Zugang hatten. Nur zwei Nischen wurden der religiösen Unterweisung eingeräumt: Zur Ausbildung von Vorbetern (
imame
) und Predigern (
hatibs
) sollten eigene Schulen dienen, von denen noch im selben Jahr 29 eröffnet wurden. Höhere islamische Studien sollten an einer Fakultät der
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