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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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zum Teil unvorhergesehene Auswirkungen hatten. Ihre Durchsetzung in der TBMM konnte erst nach der schon angesprochenen rigorosen «Bereinigung» (
tasfiye
) von Reformgegnern der 2. Versammlung vollzogen werden. Es steht aber auch fest, dass für Mustafa Kemals Neuanfang der religiöse «Hintergrund» (Familie, Schule, Beruf) der Abgeordneten keine ausschlaggebende Rolle spielte. Abgeordnete, die eine islamische Schule absolviert hatten, waren in der reformfreudigen Ersten Gruppe sogar wesentlich stärker vertreten (42) als in der insgesamt konservativeren «Zweiten Gruppe» (9).
    Atatürk nutzte den Kongress seiner Partei im Herbst 1927, um in einer sechstägigen Ansprache (
Nutuk
) seine Version des Unabhängigkeitskriegs vorzutragen und für die türkische und internationale Öffentlichkeit, nicht zuletzt für die Nachwelt, zu verfestigen. Dabei rückte der Redner seine Rolle ins volle Rampenlicht. Etwa zwei Drittel seiner Zeit verwandte er auf eine Abrechnung mit führenden und durchaus verdienstvollen Kommandeurendes Unabhängigkeitskrieges. Der umfangreiche Text sollte in den folgenden Jahrzehnten die Grundlage der offiziellen Revolutionsgeschichte werden, obwohl er zu den bis 1927 vollzogenen kulturellen und sozialen Maßnahmen fast nichts sagt. Atatürk verlor an dieser Stelle auch kein Wort über seine Religionspolitik, schon weil er den Islam wie viele spätosmanische Agnostiker für die «Wissenschaft der Massen» hielt, während er selbst von der «Wissenschaft als der Religion der Elite» überzeugt war (Şükrü Hanioğlu).
    Das Reformprogramm ging trotz desolater wirtschaftlicher Verhältnisse über die Bühne. Dabei hatten die Massakrierung, Vertreibung und Umsiedlung der armenischen und griechischen Bevölkerung aus Anatolien und Thrakien fatale Konsequenzen. Falih Rıfkı Atay, ein enger Gefährte Atatürks, illustrierte die Situation mit den Worten: «Überall verrotteten die Weinberge und verwilderten die Ölbaumhaine, der Fischfang kam zum Erliegen und die Basare blieben geschlossen.» Große Wohnviertel und ganze Städte lagen in Ruinen. Das Budget des neuen Staates, dessen Haupteinnahme der Naturalzehnte (
aşar
) war, betrug 12 Millionen britische Pfund Sterling, so viel wie das Grundkapital einer mittelgroßen Aktiengesellschaft.
    Anfang 1923 war in İzmir auf Anregung des jungen Wirtschaftsministers (und bereits als Justizminister behandelten) Mahmud Esad Bozkurt ein «Wirtschaftskongress» zusammengetreten, an dem etwa 1100 Menschen, darunter zahlreiche Frauen, teilnahmen. Die Vertreter der Landbesitzer und Kaufleute waren die wichtigste Gruppe, während es sich bei den Sprechern der «Industrie» und der «Arbeiter» eher um ausgewählte Offizielle, Bürokraten und Abgeordnete handelte, die bestenfalls ein Dutzend Produktionsstätten im modernen Verständnis repräsentierten. Bedeutsam war, dass muslimische Geschäftsleute aus Istanbul und İzmir, die während des Unabhängigkeitskrieges isoliert waren, nun auf Tuchfühlung mit den Vertretern des Regimes von Ankara kamen. Die wichtigste Empfehlung des Kongresses bildete die Abschaffung des Zehnten, der tatsächlich zwei Jahre später durch eine Umsatzsteuer ersetzt wurde. Der Anteil derBauern an der Aufbringung der direkten Steuern wurde dadurch von etwa 40 % auf 11 % gesenkt.
    Die Grundsätze von İzmir enthielten eine klare Arbeitsteilung zwischen den Aufgaben des neuen Staates und des privaten Sektors. Ersterer sollte die Infrastruktur bereitstellen (Eisenbahnen, Landstraßen, Häfen, Nachrichtenverbindungen) und das Schulwesen organisieren sowie die Initiative bei der Gründung von Handels- und Industriebanken übernehmen, jedoch bestimmte Anteile später privatisieren. Als Aufgabe der Privatwirtschaft galt vorrangig die eigenständige Versorgung von elementaren Bedürfnissen: Brotgetreide, Zucker und Kleidung. Man sprach von den unentbehrlichen «Drei Weißen» Mehl, Zucker, Tuch (
üç beyazlar: un, şeker, bez
). Die Abschnitte über die Landwirtschaft zeigen klar, an welchen Stellen Fortschritte erwartet wurden, und weisen schon auf die großen Kampagnen der 1930er Jahre hin (siehe S. 66). Die Bauern forderten einen besseren Zugang zu den Ausfuhrhäfen, die Aufhebung des Tabak-Monopols, das bis 1926 unter französischer Verwaltung stand, und die Zollbefreiung von für die Agrarwirtschaft wichtigen Importgütern. Man empfahl, die Dorfschulen mit einer Art Musterland- und Gartenbetrieb zu umgeben, der von den Schülern bestellt

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