Geschichte der Tuerkei
Istanbuler Universität betrieben werden. Die Kontrolle dieser Einrichtungen oblag dem «Präsidium für Religionsangelegenheiten», das dem Ministerpräsidium unmittelbar unterstellt war. Das kemalistische Staatskirchentum hatte mit dem (heute sogenannten)
Diyanet İşleri Başkanlığı
eine erste Struktur erhalten.
Der Scheich Said-Aufstand bot auch den Vorwand für das Gesetz vom 30. November 1925 «Über das Verbot und die Schließung der Bruderschaften, der Derwischkonvente und Mausoleen, über das Verbot des Berufs des Mausoleen-Wächters und der Führung und Verleihung einiger Titel». Damit wurde deutlich, dass nicht nur der islamischen Orthodoxie (den Ulema und ihren Medresen), sondern zudem dem organisierten Mystikertum mit dem Volksislam der Boden entzogen werden sollte. Die Verfolgung der Bruderschaften endete keineswegs im kurdischen Aufstandsgebiet, vielmehr zielte sie auch auf prominente Scheichs im Westen. In den 1930er Jahren wurden darüber hinaus die bis dahin unter staatlicher Aufsicht stehenden Formen des Religionsunterrichts eingestellt.
Schon das spektakuläre Gesetz über das Tragen westlicher Kopfbedeckungen vom 25. November 1925 (gemeint war der Herrenhut mit Krempe) richtete sich gegen die Männer der Religion. Die Gefühle der Ulema und Derwischscheichs, denen man verbot, das Haupt in der Öffentlichkeit mit einem Turban zu umwinden, wurden schwerstens beleidigt, 20 oder 30 Hutgegner erwartete die Hinrichtung. Dass damit der «interkonfessionelle Fes» (den auch Christen und Juden trugen) mit von der Bildfläche verschwand, war eine erwünschte Nebenwirkung. Entgegen den ängstlichen Erwartungen vieler Zeitgenossen verzichtete das Revolutionsregime darauf, in die weibliche Kleiderordnung, insbesondere den Gesichts- (
peçe
) und Vollschleier (
çarşaf
), einzugreifen. Einzelne Lokalverwaltungen wie Giresun 1927 oder Trabzon 1928 setzten erfolglos Fristen für das Ablegen der schwarzen Bedeckungen. Ebenso wirkungslos blieben zunächst außerhalb der Großstädte demonstrative Spaziergänge progressiver Frauen, die ohne die traditionelle Kleidung Vorbild für ihre konservativen Schwestern sein wollten (Tirebolu 1926). Auch in den folgenden Jahren wurde kein Gesetzesentwurf, der Frauenbekleidung verwestlichen sollte, eingebracht, obwohl es auf dem CHP-Kongress von 1935 einen solchen Vorstoß gab.
Die Osmanische Türkei hatte bereits mehrere Rechtsgebiete durch die Übernahme europäischer Gesetzbücher geordnet, ohne die Scheria formell anzutasten. Die Kemalisten entschlossen sich jedoch schon am 17. Februar 1926, das 1912 in Kraft getretene und 1925 auf Anordnung von Justizminister Mahmud Esad Bozkurt übersetzte Schweizer Zivilgesetzbuch (ZGB) so gut wie vollständig zu übernehmen. Dadurch wurde die Stellung der Frau dramatisch verbessert, auch wenn die Motivation der Übernahme des ZGB eine andere war: Auf diese Weise konnte man ein für Muslime und Nichtmuslime einheitliches Rechtswesen schaffen, obwohl sich die Türkei in Artikel 42 des Vertrags von Lausanne eigentlich verpflichtet hatte, das Familien- und Personenstandsrecht der Minderheiten entsprechend «den Gebräuchen» der betreffenden Gruppen zu regeln. Jetzt war die Eheschließung vor dem Standesbeamten für alle Staatsbürgerverpflichtend. Auch wenn es dem Ehemann bei der Wahl des Wohnsitzes und anderen Entscheidungen ein stärkeres Gewicht gab und familiäre Realitäten davon zunächst nicht berührt wurden, hat es auf lange Sicht kulturprägend gewirkt. Der Republikgründer hatte sich freilich noch im Vorjahr nach 1000-tägiger Ehe in der herkömmlichen islamischen Weise, das heißt durch Verstoßung, von seiner Frau Latife getrennt. Weitere Bereiche, die aufgrund der vollständigen Übernahme europäischer Gesetzbücher geregelt wurden, waren das Strafrecht (nach dem italienischen Gesetzbuch von 1889 mit zahlreichen Abweichungen und späteren Novellierungen), das Handels-, Vollstreckungs- und Prozessrecht. Bei all diesen Maßnahmen war nicht Atatürk die treibende Kraft, sondern sein Minister. Alle erwähnten Revolutionsgesetze wurden in dem engen Zeitraum zwischen 1924 und 1926 erlassen, aber noch standen ebenso beispiellose Eingriffe in die Sprache des Alltags und der Religion bevor (siehe S. 52, 67).
Die in den Verfassungen seit 1961 als «unveränderliche Revolutionsgesetze» zusammengefassten Vorschriften sind ein Bündel von Maßnahmen, die nicht nur unterschiedlich motiviert waren und ganz verschiedene,
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