Geschichte der Tuerkei
Trotzdem galt ihm der diplomatische Akt nur als Wiederaufnahme einer alten Freundschaft, die geblieben sei wie früher.
4. Von der Überzeugung zum Zwang (1928–1938)
Der Kult um Mustafa Kemal erreichte mit der seit 1926 begonnenen Errichtung von Denkmälern einen allerorten sichtbaren Höhepunkt. Es entstanden 39 Atatürk-Statuen, von denen ihn die meisten in Uniform zeigen, die er entgegen einer weit verbreiteten Ansicht nach dem Unabhängigkeitskrieg nicht endgültig abgelegt hatte. Nach 1930 ließ das kemalistische Regime keineKonkurrenz zur Volkspartei mehr zu. Einer von Atatürk angeregten «Oppositionspartei» unter der Leitung seines alten Gefährten Fethi Okyar war nur ein kurzes Leben beschieden. Diese sogenannte «Freie Republikanische Partei» (
Serbest Cumhuriyet Fırkası,
SCF) löste sich bereits nach drei Monaten wieder auf, weil ihre Anziehungskraft vor allem im agrarisch bessergestellten Westen größer war, als man vorausgesehen hatte, und das Experiment einer kontrollierten Meinungsäußerung aus dem Ruder zu laufen drohte. Ansonsten beschränkte sich Opposition seit 1926 im Parlament auf die Stimmenthaltung. Die kurdische «Ararat-Rebellion» im Nordosten konnte erst nach dem Einsatz von 60.000 Mann und nahezu 100 Militärflugzeugen im September 1930 endgültig niedergeschlagen werden, ein Ergebnis, das die Rebellen ebenso schwächte, wie es den türkischen Nationalismus stärkte. Ein lokal begrenzter Vorfall in der Kleinstadt Menemen bei İzmir, bei dem fanatisierte Nakşbendi-Derwische den jungen Reserveoffizier Kubilay lynchten (23. Dezember 1930), wurde von der Regierung genutzt, um den Druck auf alle Bruderschaften zu verstärken. Kubilay wurde zum republikanischen Märtyrer
par excellence,
während die Bruderschaften, insbesondere die Nakşbendiye, im Untergrund fortlebten.
Beim Kongress der CHF im Mai 1931 wurden sechs «Grundeigenschaften» der Partei in das Programm aufgenommen, die bis in die 1990er Jahre als die «Sechs Pfeile» die doktrinäre Grundlage der Volkspartei und ihrer Nachfolgerinnen bleiben sollten. Im Einzelnen waren es: 1) Republikanismus, 2) Nationalismus, 3) Laizismus, 4) Populismus, 5) Etatismus und 6) Reformismus (wobei der letzte Begriff
inkılâpçılık
wörtlich «Revolutionismus» bedeutet). Gleichzeitig propagierte die Partei eine Gesellschaft, die auf der Zusammenarbeit der sozio-ökonomischen Gruppen (Kleinbauern, Gewerbetreibende, Arbeiter und Angestellte, Freiberufler, Industrielle, Großgrundbesitzer, Kaufleute) beruhte. Der Korporatismus als eine auch im Westen der Epoche viel diskutierte Gemeinschaftsideologie empfahl sich zudem als Heilmittel gegen klassengesellschaftliche Vorstellungen.
1932 benutzte Mahmud Esad Bozkurt zum ersten Mal den Begriff
Kemalizm
im Sinn einer Bündelung all dieser Merkmale.Er erklärte Atatürk zum bedeutendsten Revolutionär der Weltgeschichte und maß seiner Ideologie universelle Gültigkeit bei. Die Republik betrieb jetzt auch im Ausland ihre Selbstdarstellung unter diesem Leitwort. So erschien zwischen 1934 und 1948 ein vom Presseamt herausgegebenes Magazin unter dem Titel
La Turquie Kemaliste.
(1953 sollte die Volkspartei das doktrinäre
Kemalizm
durch
Atatürk Yolu,
«Atatürks Weg», ersetzen). Die revolutionäre Programmatik wurde nun Pflichtstoff an den Schulen. An der Universität in Istanbul hielten ab 1934 zunächst Yusuf Hikmet Bayur, später Recep Peker Vorlesungen in «Revolutionsgeschichte». Staat, Bürokratie und Partei wurden personell und institutionell immer enger verflochten. Generalsekretär Peker verkündete beim 4. Kongress der Republikanischen Volkspartei (9. Mai 1935), dass die Türkische Republik der erste «Partei-Staat» der Welt sei – ohne das Portugal Salazars, das Spanien Francos oder das Griechenland von Metaxas zu erwähnen, von der Sowjetunion und Hitler-Deutschland ganz zu schweigen. In Zukunft werde sich kein Einzelner und keine Gruppe auf sozialem, politischem und kulturellem Gebiet abweichend verhalten. Das von Autoren wie Mete Tunçay gewählte Eigenschaftswort «jakobinisch» für diese Phase der Republik trifft zu, wenn man darunter versteht, dass ihre Führer keine Notwendigkeit sahen, mit der Bevölkerung in Austausch zu treten, weil sie glaubten, deren Bedürfnisse besser zu kennen als diese selbst.
Das Monopol der Partei in der Politik bedeutete jedoch nicht, dass sie dadurch erstarkte. Als Peker am 15. Juni 1936 als Generalsekretär abgelöst wurde, war die Fusion
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