Geschichte der Tuerkei
vier weiblichen Abgeordneten der DP ein gesetzliches Verbot des Schleiers (
Çarşaf
) beantragen wollten. Andererseits vertrat Menderes eine durchaus ambivalente Haltung, wofür als Beispiel sein Auftritt am 7. Januar 1956 in Konya dienen kann, als er verkündete: «Religiöse und weltliche Fragen können niemals getrennt werden. Wir werden bald Religionsstunden an Mittelschulen einrichten und die Gehälter der Imame erhöhen.» Eine Woche später musste er sich in der Presse zurücknehmen: «Meine Rede wurde missverstanden. Wir sind auch für die Trennung von Religion und Politik, aber für Gewissensfreiheit.» Tatsächlich wurde der Religionsunterricht im selben Jahr für die ersten beiden Klassen der Mittelschule zugelassen. Die noch in den erstenMenderes-Jahren betriebene Verfolgung der Nurcus (siehe S. 42) endete im September 1958 mit einem Freispruch vor einem Gericht in Ankara.
Nachdem bislang eine Art Waffenstillstand zwischen Zivilregierung und Armeeführung geherrscht hatte, begann in den Streitkräften die Nervosität über einen Ministerpräsidenten zu wachsen, der sich von der laizistischen Staatsdoktrin zu verabschieden schien. Ab 1955 wurde in Teilen der Armee eine zunehmende Opposition registriert. Offensichtlich hatte aber Menderes bis zum Ausbruch der irakischen Revolution (Juli 1958), die das Ende der 1953 geschlossenen prowestlichen Verteidigungsallianz der Türkei mit Irak, Iran, Pakistan und Großbritannien («Bagdad-Pakt») bedeutete, noch unbegrenztes Vertrauen in die Generäle («Die würden mich nie stürzen …»).
Anfang 1960 erreichte der Druck der Regierung auf die Opposition und die ihr nahestehende Presse einen Höhepunkt. Die TBMM-Mehrheit beschloss eine Untersuchung gegen die CHP «wegen Volksverhetzung» mit dem Ziel, ihre politische Betätigung für drei Monate zu verbieten. Zu diesem Zweck wurde am 18. April eine Parlamentskommission, die nur aus DP-Mitgliedern bestand, eingerichtet, weil, so Menderes, «die Justiz ihrer Aufgabe nicht nachkam». İnönü erklärte am selben Tag: «Freunde, wenn die Bedingungen reif sind, ist eine Revolution rechtens.» Nach schweren Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der Polizei in Istanbul mit zwei Todesopfern wurde für drei Monate der Ausnahmezustand ausgerufen. Während einer Tagung des NATO-Ministerrats in Istanbul kam es zu weiteren studentischen Kundgebungen. Am 25. Mai wurden sämtliche Hochschulen geschlossen, ein Versammlungsverbot für alle Gruppen über fünf Personen und eine nächtliche Ausgangssperre erlassen. Zwei Tage später, am 27. Mai 1960, verkündeten die Streitkräfte im Sender Ankara, sie hätten «unblutig die Verwaltung des Landes übernommen, um einen Bruderkrieg zu verhindern». Menderes, der sich «von einem Verteidiger der Demokratie zu ihrem Brandstifter gewandelt hatte» (Şevket S. Aydemir), wurde in Kütahya verhaftet.
Die Motive der Obristen und niederrangigen Offiziere, dieMenderes stürzten, waren, so wird meist hervorgehoben, ideologischer Natur. Die Putschisten – ausnahmslos Männer, die wie Alparslan Türkeş (1919–1997) ihre prägenden Jahre im Hochkemalismus erlebt hatten – hätten als «Korrekturrevolutionäre» gehandelt, um das bedrohte Vermächtnis Atatürks zu sichern. Auch wird die Frustration über veraltete Bewaffnung und bürokratische Strukturen als Ursache genannt. Andere Beobachter sprachen von opportunistischen Beweggründen wie etwa eingeschränkten Aufstiegsmöglichkeiten unterhalb der Generalität.
7. Verlorene Jahrzehnte? (1960–1980)
Die Obristen-Junta bildete ein «Komitee der Nationalen Einheit» (Milli
Birlik Komitesi,
MBK) aus 38 Offizieren aller Waffengattungen, das in einer Verlautbarung beiläufig, aber zutreffend von der Gründung einer «Zweiten Republik» sprach. Schon einen Tag nach dem Putsch, am 28. Mai 1960, erklärte das höchste Gremium der Istanbuler Universität die Aktion des MBK für rechtens. Dieses als «säkulares Fetva» in die Geschichte eingegangene Papier war die Vorstufe zu einem Entwurf für eine neue Verfassung, der den Militärs im Oktober zugestellt wurde. Am 14. Oktober begann auf der Marmara-Insel Yassıada der Prozess, bei dem sich 592 Angeklagte, unter ihnen so gut wie alle DP-Abgeordneten, verantworten mussten. Während der elfmonatigen Verhandlungen wurde eine große Zahl von Anklagepunkten vorgebracht: Mord und Machtmissbrauch in der Zeit vom 28. April bis 27. Mai, verfassungswidrige Handlungen gegen die Opposition,
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