Geschichte der Tuerkei
die Ereignisse vom 6. und 7. September 1955 (siehe S. 86f.), Rechtswidrigkeiten bei den Wahlen im Jahr 1957, die Heranziehung der Religion zu parteipolitischen Zwecken, die Schaffung der «Vaterländischen Front» mit dem Ziel, die türkische Bevölkerung zu spalten. Berechtigte und absurdeKorruptions- und Unterschlagungsvorwürfe ergänzten die politischen Punkte. Am Ende wurden 14 Angeklagte, an erster Stelle Bayar, «wegen des Versuchs, die Verfassung der Republik Türkei gewaltsam zu verändern und durch eine andere zu ersetzen und sie aufzuheben», einstimmig nach Artikel 146/1 des Strafgesetzbuchs zum Tode verurteilt. Menderes und zwei Minister wurden 1961 hingerichtet, Bayar aus Altersgründen verschont. 31 Personen erhielten lebenslängliche Haftstrafen.
Die neue Verfassung war in mancher Hinsicht ein respektables, zum Teil an das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland angelehntes Werk. Für die Anhängerschaft von Menderes gilt sie allerdings bis heute als ein bloßes «Etikett mit der Aufschrift Revolution», um den Putsch zu legitimieren. Zu ihren wichtigsten Kennzeichen gehörten die auf zwei Kammern aufgeteilte Legislative (TBMM = Nationalversammlung + Senat) und ein Verfassungsgericht. Der Senat bestand aus 150 für sechs Jahre gewählten und 15 vom Präsidenten bestimmten Personen. Die Mitglieder des «Komitees der Nationalen Einheit» galten auf Lebenszeit als «natürliche Mitglieder» der «Ersten Kammer». Neben dieser Besonderheit war das Verfassungsgericht für seine Kritiker ein Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung, weil es durch sein Veto Regierungs- und Parlamentsbeschlüsse für unwirksam erklären konnte (siehe S. 109). Außerdem wurde ein «Nationaler Sicherheitsrat» (
Milli Güvenlik Kurulu,
MGK) geschaffen, der bis zur Verfassungsreform des Jahres 2001 mehrheitlich aus Militärs bestand. Er hatte die Aufgabe, «dem Ministerrat die notwendigen grundlegenden
Empfehlungen
zu geben, um ihm bei Entscheidungen, welche die nationale Sicherheit und Gleichordnung betreffen, behilflich zu sein». Aus den genannten Empfehlungen wurden in der Folge meist bindende Beschlüsse (siehe S. 110).
Am 7. Juli 1961, noch vor Abschluss des Yassıada-Verfahrens, stimmten bei einem Referendum weniger als zwei Drittel (61, 7 %) der Wähler der Verfassung zu. Die Gegner konzentrierten sich in den ehemaligen DP-Hochburgen im Westen des Landes. Bei den ersten allgemeinen Wahlen unter dem neuen Regime, für die jetzt das Verhältniswahlsystem galt, trat die «Gerechtigkeitspartei»(
Adalet Partisi,
AP) an, die allgemein als Erbin der verbotenen DP betrachtet wurde. Das Ergebnis war ein knapper Vorsprung der von İnönü geführten CHP (36,7 %) vor der AP (34,7 %). Diese vom Militär durchaus nicht begrüßten Zahlen konnte man als posthumen Sieg von Menderes deuten, auch wenn die ganze Organisation der AP noch in ängstlicher Wartestellung verharrte. Nachdem der volkstümliche, von den Putschisten als Aushängeschild benutzte General Cemal Gürsel zum Präsidenten gewählt worden war, bildete İnönü die erste Koalitionsregierung der nun 40-jährigen Republik. In Anlehnung an die – allerdings mit bedeutsamen Einschränkungen – bis 1980 gültige Verfassung wurden Gesetze über Gewerkschaften bzw. Streik und Aussperrung verabschiedet.
Als ein wichtiger Bestandteil der Verfassung von 1961 galt ein Artikel über Entwicklungspläne und eine staatliche Planungsorganisation, in dem es hieß: «Der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung liegt eine Planung zugrunde.» Damit war der Übergang von der «Gemischten Wirtschaft» zur von türkischen Ökonomen sogenannten «Zweiten merkantilistischen Periode der Türkei» zwischen 1963 und 1980 eingeleitet. Die wirtschaftliche und soziale Ausgangslage zu Beginn der ersten Planungsphase zeigte noch alle Merkmale eines unterentwickelten Landes.
Die unter Mitwirkung der OECD erarbeiteten Planziele strebten in Fünf-Jahres-Abschnitten Investitionen in Höhe von 18 % des Budgets an, wobei 14 % aus eigener Leistung und 4 % durch Auslandskredite aufgebracht werden sollten. Die beiden ersten Planperioden verliefen einigermaßen zufriedenstellend, während der dritte Abschnitt durch die Ölkrise des Jahres 1973, das Zypern-Problem und das daraus resultierende US-Embargo nicht wunschgemäß ausfiel (siehe S. 97). Im September 1963 wurde das folgenreiche Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
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