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Geschichte der Tuerkei

Geschichte der Tuerkei

Titel: Geschichte der Tuerkei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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Gründung
einer,
sondern
zweier
Nachfolgeparteien. Die Anhänger eines radikal-islamischen Kurses versammelten sich um Recai Kutan (Necmettin Erbakan war erneut mit einem Politikverbot belegt worden) in der «Glückseligkeitspartei» (
Saadet Partisi,
SP), während eine Gruppe von 74 realpolitisch eingestellten Traditionalisten am 14. August 2001 die «Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung» (Adalet
ve Kalkınma Partisi,
AKP) gründete. 51 Abgeordnete folgten dem Ruf der AKP, während 48 in die SP eintraten. Damit war ein Machtkampf entschieden, dessen Höhepunkt beim Kongress der SP die Gegenkandidatur des aus Kayseri stammenden Ökonomen Abdullah Gül (geb. 1950) gegen Recai Kutan gebildet hatte, bei der Gül mit 522 zu 633 Stimmen unterlag. Vorsitzender der AKP wurde Recep Tayyip Erdoğan (geb. 1954). Erdoğan war in einfachen Verhältnissen in Istanbul aufgewachsen. Als Sohn eines Schwarzmeer-Türken repräsentierteer die große Mehrheit von Binnenmigranten der ersten und zweiten Generation in der Megacity. Er hatte ein
İmam Hatip Lisesi
(siehe S. 43) besucht und war nach seinem Abschluss auf eine allgemeine Sekundarschule gewechselt, um zum Wirtschaftsstudium zugelassen zu werden. Als Student hatte er es bereits zum Vorsitzenden der Istanbuler Jugendorganisation von Erbakans MSP gebracht. 1994 wurde er bei einem Stimmenanteil von etwa 25 % gegen vier weitere Kandidaten Bürgermeister von Groß-Istanbul. Im Kontrast zum Gründervater der MSP galt er inzwischen als «Neuerer» (
yenilikçi
). Diese Zuschreibung bezog sich mehr auf die realistischere Weltsicht einer jüngeren Politikergeneration als auf ideologische Differenzen («Mein Bezugssystem ist der Islam», «Demokratie ist kein Ziel, sondern ein Weg», «Das System, das ich einführen möchte, kann nicht im Gegensatz zu Gottes Befehlen stehen»). Erdoğan gelang es im Gegensatz zu Erbakan, die Anhänger der «Gemeinde» (
cemaat
) Fethullah Gülens ins Boot zu holen. Der ehemalige Religionsbeamte Gülen (geb. 1938) gilt, obwohl er seit 1999 im selbstverhängten US-amerikanischen Exil lebt, als Stimme eines staatsnahen, toleranten Islams. Dabei verbindet ihn mit Erbakans Erziehungsideal das Ziel, weltliche und religiöse Unterrichtsinhalte zu harmonisieren. Das von ihm geschaffene bzw. inspirierte Bildungs- und Medienimperium besteht aus über tausend Privatschulen innerhalb und außerhalb der Türkei, mehreren Universitäten und einflussreichen Medien wie der wichtigen Tageszeitung
Zaman.
Hinzu kommen Kindergärten und Wohngemeinschaften für Studierende. Die als «Erdrutsch» bezeichneten Gewinne der AKP bei den allgemeinen Wahlen im Herbst 2002 reichten mit nur 34,3 % aus, um eine Alleinregierung zu bilden. Die SP sah sich mit 2,5 % marginalisiert. Bei allen ideologischen und taktischen Unterschieden erwies sich die AKP bei der Betrachtung der Wählerschaft als Nachfolgerin der MSP. Diese hatte sich seit den Wahlen von 1977 eine breitere Basis geschaffen, welche über das bäuerliche und kleinbürgerliche Milieu hinaus in die unterprivilegierte Bewohnerschaft der
Gecekondus
reichte, aber auch Akademiker, Intellektuelle und den wachsenden Mittelstand mit islamischer Lebensführung erfasste.Die Haltung der AKP zu Europa blieb zwiespältig. Während ihre Gründerväter die EU noch als «Christlichen Klub» denunziert hatten, wurden ihre Nachfolger unter Erdoğan nun umgekehrt von den republikanischen Kemalisten sogar als Kollaborateure der EU denunziert. «Der traditionelle anti-imperialistische Diskurs des kemalistischen Nationalismus wurde hingegen durch ethnokulturelle Klischees ersetzt und nahm entsprechend eine anti-westliche Tonart an.» (Tanıl Bora). Der Wahlsieger Erdoğan konnte erst nach vier Monaten das Ministerpräsidentenamt von Abdullah Gül übernehmen, weil er wegen eines provokanten Zitats in einem früheren Wahlkampf eine Gefängnisstrafe absitzen musste.
    Nach der Regierungsübernahme im Jahr 2002 war die AKP in der komfortablen Lage, die Ernte des von den Vorgängern eingeleiteten Reformprogramms einzufahren. Die Sanierung des Bankensektors trug offensichtlich zu unerwartet günstigen Ergebnissen ab 2004 bei. Ein Vergleich der sozioökonomischen Messwerte der Jahre 2000 und 2005 zeigt – mit wichtigen Ausnahmen – eindrucksvolle Wachstumsergebnisse, die
über
den Prognosen des 8. Entwicklungsplans lagen: Bemerkenswert war der hohe Anteil der verarbeitenden Industrie an den Ausfuhren (92 % im Jahr 2005), wobei 52 % der

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