Geschichte der Tuerkei
Religionsangelegenheiten fördern nachdrücklich die Sunnitisierung der Gesellschaft. Jenseits der Metropolen des Westens erleben viele Menschen, die nicht am Freitagsgebet und am Ramadan-Fasten teilnehmen, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ausgrenzung. Solange Erdoğans Partei die Mehrheit behält, wird sie fortfahren, ihre Anhänger mit Posten in wichtigen staatlichen und kommunalen Institutionen zu belohnen. Trotz der zunehmenden Partizipation von Frauen in den Parteigliederungen hat der Anteil weiblicher Regierungsmitglieder und Spitzenbeamten seit Anfang der 1990er Jahre abgenommen. Eine baldige Ablösung der AKP durch eine «gewendete», europafreundlichere, in religiösen Fragen tolerantere und gegenüber den kurdischen Wünschen offenere CHP ist nicht in Sicht. Die politischen Parteien sind ausnahmslos auf ihre Führer ausgerichtet, innerparteiliche Demokratie bleibt klein geschrieben.
Die Außenpolitik des Landes wird heute nicht mehr wie in Zeiten des Kalten Krieges und des krisenhaften Verhältnisses zu Griechenland allein von Sicherheitsinteressen beherrscht. Die Beziehungen Ankaras zu Iran, den Schwarzmeer-Anrainern und den zentralasiatischen Republiken sind weitgehend konfliktfrei, das Verhältnis zur «Föderalen Region Kurdistan-Irak» (Erbil) ist pragmatisch. In der Syrien-Krise hat die Türkei den Aufständischen Fluchträume gewährt, während das Regime von Damaskus wie in der Vergangenheit auf seine kurdische Minderheit setzt. Im diplomatischen und militärischen Verkehr mit Israel gab es Rückschläge, die jedoch nicht die wirtschaftlichen Beziehungen beeinträchtigen. Armenien legte 2010 die im Vorjahr auf US-amerikanische Vermittlung hin eingeleitete Normalisierung zwischen Ankara und Jerewan auf Eis. Haupthindernisse sind die fehlende türkische Bereitschaft, die Vertreibungen und Massaker von 1915/16 als «Völkermord» anzuerkennen, sowie der ungelöste Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan.
Ein leicht rückläufiger Anteil des Handels mit der EuropäischenUnion (Anfang 2010 rund 48 %) darf nicht den Blick dafür verstellen, dass die Türkei de facto zu Europa gehört. Die gegenwärtige Türkei wäre ohne jahrzehntelange Anstrengungen von beiden Seiten, europäische Normen (im technischen und juristischen Sinn gleichermaßen) einzuführen, undenkbar. Der sogenannte
Pre-accession-
Prozess ist keineswegs zum Stehen gekommen, wie zahlreiche von der Europäischen Union initiierte bzw. subventionierte Projekte beweisen. Eine selbstbewusstere Türkei kann auch hinnehmen, dass seit 2006 die Beitrittsverhandlungen in acht «Kapiteln» mit der Europäischen Union eingefrorenen sind, weil die Türkei keinen freien Handel mit dem griechischen Teil Zyperns zulässt.
Die Romantisierung der osmanischen Vergangenheit durch große Teile konservativer Akademiker und Publizisten in Verbindung mit einer manchmal herablassenden Großer-Bruder-Attitüde gegenüber kleineren Staaten auf dem Balkan, in Zentralasien und in der arabischen Welt hat ihre ideologischen Wurzeln in den 1970er Jahren, als Necmettin Erbakan eine Führungsrolle für die Türkei einforderte. Diese Forderung erhielt nach dem 12. September 1980 neue Impulse, wurde in den 1990er Jahren von Turgut Özal wieder aufgenommen und ist heute ein zentrales Element des offiziellen türkischen Selbstverständnisses.
Während der «Hochkemalismus» in der «Zurückweisung des (osmanischen) Erbes» gipfelte, ist es den modernen Konservativen um eine selektive Annahme des türkisch-islamischen Vermächtnisses zu tun, indem sie die Versäumnisse und Verbrechen kleinreden oder «dem Ausland» bzw. bestimmten Minderheiten zurechnen. Die Vorstellung von einer «sauberen» Geschichte hindert die Regierung daran, sich mit dem Schicksal der osmanischen Armenier zu befassen. Die gebeutelten christlichen Minderheiten erleben in der Gegenwart nach der Aufhebung einschneidender Verordnungen aus den 1930er Jahren, die ihre Verfügung über Immobilien im Widerspruch zu «Lausanne» so gut wie aufgehoben hatten, eine gewisse Erleichterung. Dennoch bleibt es Minderheiten nach dem Zivilgesetzbuch untersagt, Stiftungen zugunsten einer Nationalität oder Religionsgemeinschaft einzurichten.
Für manche Türkei-Beobachter wurde unter Erdoğan bereits die Schwelle zum «demokratischen Autoritarismus» überschritten. In keinem anderen Land stehen so viele Menschen (12.000) unter Terrorverdacht wie in der Türkei. Die Justiz führt zahlreiche Verfahren gegen
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