Geschichte der Tuerkei
Fertigwaren in die Länder der Europäischen Union geliefert wurden. Die Einfuhren aus der EU betrugen 55,9 %. Das Land hatte sich entgegen den Befürchtungen der Etatisten von einer verlängerten Werkbank westlicher Unternehmen zu einer Werkstatt entwickelt, die hochwertige Industrieprodukte ausführte. Der Anteil von Staatsbetrieben an der türkischen Volkswirtschaft nimmt seit den Reformmaßnahmen von Özal und seinen Nachfolgern laufend ab. Vorgesehen ist unter anderem der vollständige Rückzug des Staates aus den Bereichen Luft- und Seeverkehr, Petrochemie sowie der Verarbeitung von Zucker-, Tabak- und Teeprodukten.
Trotz vieler günstiger volkswirtschaftlicher Zahlen gelang es nicht, die Schere zwischen Einfuhren und Ausfuhren zu verringern. Zudem stieg die Arbeitslosigkeit zwischen 2000 und 2005 von 6,5 % auf 10,3 %, ohne Einbeziehung der Landwirtschaftsogar von 9,4 % auf 13,6 %. Der informelle Arbeitsmarkt umfasst nach jüngsten Schätzungen 11 Millionen Menschen. Er wächst durch das bisher ungewöhnlich niedrige Renteneintrittsalter (44 Jahre für Frauen, 48 für Männer), das bei entsprechend niedrigen Renten die Betroffenen im gesetzlichen Rentenalter zur Aufnahme einer Tätigkeit zwingt. Der Mindestlohn, den eine aus Regierungsvertretern, Arbeitgebern und Arbeitern zusammengesetzte Kommission festsetzte, lag deutlich unter der Hunger- und sehr weit unter der Armutsgrenze. Im Jahr 2005 befanden sich zwei von fünf sozialversicherten Arbeitnehmern auf dem Niveau des Mindestlohnes. Eine Verbraucherschutzorganisation nannte 2011 die Zahl von fast 13 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze lebten. Eine 1992 eingeführte medizinische Grundversorgung für diese Bürger wird über ein System «Grüner Karten» geregelt.
Wirtschaftsentwicklung
2000
2005
Bruttoinlandsprodukt (in Milliarden $)
200,0
363,4
Nationaleinkommen pro Kopf (in $)
2879
5042
Wachstum des Bruttoinlandsprodukts %
7,4
7,4
Investitionen (in Milliarden $)
16,9
24,0
Öffentlicher Sektor %
19,6
25,9
Privater Sektor %
16,0
23,6
Ausfuhren (in Milliarden $)
27,8
73,4
Einfuhren (in Milliarden $)
54,5
116,5
Tourismuseinnahmen (in Milliarden $)
7,6
18,2
Erdoğan bemühte sich nach 2005 zunächst intensiver als Özal, der schon manches Tabu gebrochen hatte, den kurdischen Südosten für sich zu gewinnen. Deutliche Elemente der «Kurdischen Öffnung» waren die ab 2010 gültige Zulassung von zweisprachigen Ortsschildern, eine wachsende Tolerierung kurdischer Personennamen beziehungsweise ihrer Schreibung mit Zeichen, die im Standard-Türkischen fehlen (q, w, x), die Einrichtung von Sprachkursen auf Universitätsniveau (nicht nur für Kurdisch im engeren Sinn, sondern auch für Zaza und die MinderheitensprachenArabisch und Aramäisch) sowie die Thematisierung von Unterentwicklung und Unterdrückung in Literatur und Film. Seitdem entstand zudem ein lebhafter, von der Regierung nicht mehr kontrollierbarer kurdischer Medienbetrieb. Die friedlich verlaufenden Wahlkampagnen im Frühsommer 2011 schienen wie eine Bestätigung der von Gemäßigten beider Seiten angestrebten Ersetzung des «Kampfes in den Bergen durch Politik in den Hochebenen». Schwerer als der AKP fiel es den Postkemalisten der CHP, auf die Kurden zuzugehen, auch wenn an deren Spitze seit 2010 der aus Dersim/Tunceli stammende Kemal Kılıçdaroğlu steht.
Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 27. Juli 2007 konnte die AKP ihr Ergebnis von 2002 noch übertreffen. Sie stellte jetzt 341 von 550 Abgeordneten, die CHP kam auf 112, die MHP auf 71 Sitze. Von 26 unabhängigen Abgeordneten galten 22 als prokurdisch, 20 von ihnen schlossen sich der «Partei der demokratischen Gesellschaft» (
Demokratik Toplum Partisi,
DTP) an und erhielten damit den Status einer Fraktion. Im Südosten hatte die AKP jedoch mehr Wähler angezogen als die DTP. Erdoğans Parteifreund Abdullah Gül wurde am 28. August 2007 im dritten Wahlgang und gegen den Widerstand der Militärführung als Nachfolger Sezers zum 11. Präsidenten der Republik gewählt.
Symbolbewusst exakt 30 Jahre nach der Militärintervention vom 12. September 1980 unterwarf die Regierung im Jahr 2010 die von ihr vorgeschlagenen 30 Änderungen der Verfassung von 1982 einer Volksbefragung. Die CHP-Opposition warf Erdoğan einen «zivilen Putsch» vor, um eine autokratische Verfassung mit dem Endziel eines Präsidialsystems einzuführen. Vorerst aber ging es der AKP vor allem um eine neue Form der Bestellung der obersten Richter, um
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