Geschichte der Tuerkei
der Regierung ein Mitspracherecht an der Stelle zu verschaffen, die ihr so viel Unbehagen bereitet hatte. Unabhängig davon waren die meisten der vorgeschlagenen Reformen echte Schritte zur Liberalisierung des Landes. Das Ergebnis (58 % Zustimmung, 42 % Ablehnung) machte noch vor den allgemeinen Wahlen im folgenden Jahr deutlich, dass die AKP in Provinzen wie Konya (78 %) und Kayseri (73 %) diemeisten Anhänger hatte, während im Westen ein hoher Prozentsatz das Referendum mit Nein beantwortete (z.B. İzmir 63 %, Edirne 73 %). Aufgrund des sunnitischen Profils der AKP war auch voraussagbar, dass Provinzen und Bezirke mit starkem Anteil an Aleviten nicht zustimmen würden (in Hacibektaş, Tunceli und dem östlichen Teil der Provinz Sivas). Die Wahlbehörde hatte 2.566.335 Stimmberechtigte im Ausland registriert, von denen 196.299 ihr Wahlrecht an einer von 25 an den Landgrenzen und Flughäfen eingerichteten Stationen wahrnahmen.
Die Parlamentswahlen vom 12. Juni 2011 bestätigten die Regierung Erdoğan (AKP 49,85 %, CHP 25,88 %, MHP 12,97 %, «Unabhängige» 6,65 %). Ein – abgesehen von über die Medien ausgetragenen Schmutzkampagnen – störungsfreier Wahlkampf, eine hohe Beteiligung und ein unbestritten korrektes Verfahren bei der Auszählung von fast 200.000 Wahlurnen zeigte zunächst, dass das «Experiment mit der Demokratie» funktionierte. Die Zulassung von «Unabhängigen» (d.h. in der Mehrheit kurdischen Kandidaten) erlaubte 36 Politikern aus dem Südosten und Osten des Landes den Einzug ins Parlament. Handel und Gewerbe der chronisch vernachlässigten Ostprovinzen profitierten zunehmend durch die Normalisierung der Beziehungen zu Syrien und dem Irak, deren Bürger nun weitgehend ohne Formalitäten die Grenze überschreiten konnten. Das Gespann Gül-Erdoğan, beraten von einem in der arabischen Welt gut eingeführten Außenminister (Davutoğlu), intensivierte die Beziehungen zu den islamischen Staaten der Region, die in der Vergangenheit allzu einseitig von Sicherheitsinteressen beherrscht waren, ohne die Kontakte mit Israel zu vernachlässigen. Als der israelische Präsident Shimon Peres 2007 vor der TBMM sprach, war noch nicht abzusehen, dass der Einmarsch Israels im Gaza-Streifen zu einer dramatischen Wende führen würde, die nach der türkischen Unterstützung der sogenannten «Gaza Freiheitsflotte» im Mai 2010 einen Tiefpunkt erreichen sollte.
Ausblick
Die positive Entwicklung der türkischen Wirtschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat das Gewicht der Türkei mit ihrer 75 Millionen Einwohner zählenden, insgesamt sehr jungen Bevölkerung in der Region und international deutlich erhöht. Die Zahl türkischer Millionäre liegt bei 10.000, und auch der «kleine Mann» hat an der Prosperität einen gewissen Anteil. Das Durchschnittseinkommen liegt mit 7800 Euro über dem der EU-Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien. Nachdem die Türkei schon 1975 zu einem Land mit überwiegend städtischer Bevölkerung geworden war, lebt inzwischen fast jeder dritte Einwohner in einer der fünf Millionenstädte. Allein das demographische und wirtschaftliche Gewicht der Agglomeration Istanbul mit mehr als 13 Millionen Einwohnern übertrifft das mehrerer Staaten der Europäischen Union. Gleichzeitig hat sich das Gefälle vom entwickelten Westen nach Osten sichtbar abgeflacht.
Das schnelle Wachstum der türkischen Wirtschaft, das vor allem auf einer lebhaften Binnennachfrage beruht, hat Ende 2011 seinen Höhepunkt überschritten. Das Land leidet weiterhin unter einem beachtlichen Leistungsbilanzdefizit, zu dem hohe Energieimporte beitragen. Der Arbeitsmarkt ist unflexibel, die informelle Ökonomie ausgedehnt, und die Inflation steigt mit über 11 % (April 2012) wieder an.
Die Verfassungsreformen, die schon vor der «Erdrutschwahl» von 2002 eingeleitet und von der AKP-Regierung zügig vorangetrieben wurden, haben dem Land einen zivileren Habitus verliehen, auch wenn sie von der politischen Opposition als «nachrangig» abgewertet werden. Zuletzt wurde sogar gegen General Evren, den betagten Putschisten vom 12. September 1980, Anklage erhoben. In Umkehrung der Praktiken der Kemalisten, die in kleinen, oft unauffälligen Schritten religiöseElemente im Schulwesen oder der traditionellen Kleiderordnung beseitigt haben, geht die AKP daran, noch bestehende Einschränkungen bei der Religionserziehung aus dem Weg zu räumen. Das Ministerium für Nationale Erziehung und das Präsidium für
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