Geschichte der Tuerkei
Verfassungsgerichts Präsident der Republik. Sezer blockierte nach der Regierungsübernahme durch die AKP (siehe S. 112) mit seinem Veto mehrere Gesetze, in denen er Verstöße gegen die laizistische Grundordnung sah. Als strikter Anhänger der kemalistischen Kleiderordnung verweigerte er den Gattinnen von AKP-Politikern den Zugang zu Staatsempfängen. 2001 war eines der schwersten Jahre für die türkische Wirtschaft seit Gründung der Republik. Das Haushaltsdefizit erreichte mit 14 % des Bruttoinlandsprodukts dramatische Dimensionen. Die Außenverschuldung betrug 110 Milliarden US-Dollar, die Inflationsrate lag bei 70 %. Anders als bei den seit den späten 1950er Jahren ablaufenden populistischen Zyklen der Wirtschaft kam es jetzt zu einem Zusammenbruch des Finanzsektors. Die notwendige Freigabe des Wechselkurses war gleichbedeutend mit einer Abwertung der Lira um 40 %.
Vor diesem Hintergrund legte die Dreierkoalition Ecevit (DSP), Bahçeli (MHP) und Yılmaz (ANAP) im März ein «NationalesProgramm für die Annahme der Errungenschaften der Europäischen Union» vor, in dem zahlreiche Reformen in den Bereichen Politik, Verwaltung und Recht angekündigt wurden. Das Programm war in kurz- und mittelfristige Maßnahmen unterteilt und versprach die Änderung von Verfassungsartikeln und zahlreichen Gesetzen. Europäische Standards bei den Menschenrechten wurden als Richtschnur genannt. Man strebte ein neues Parteiengesetz an und mit der Verabschiedung eines neuen Strafgesetzbuches auch die Abschaffung der (seit 1984 nicht mehr vollstreckten) Todesstrafe. Insbesondere wurde eine Überprüfung des Strafrechtsartikels 312 (Absatz 2: «Wer die Bevölkerung unter Hinweis auf Unterschiede der Klasse, Rasse, Religion, Konfession oder Region öffentlich zu Hass und Feindschaft aufstachelt …») angekündigt, «ohne die von ihm geschützten Werte zu beschädigen». Auch für die Artikel 7 und 8 des Antiterrorgesetzes fand man eine ähnlich vorsichtige Wortwahl. Besonders deutlich wurde die Selbstbeschränkung der ideologisch weit auseinanderliegenden Parteien bei den Sätzen zur Sprachenpolitik. Türkisch sei die offizielle und im Erziehungswesen (allein) gültige Sprache der Türkei. Dies aber solle die Bürger nicht daran hindern, im Alltagsleben unterschiedliche Sprachen, Dialekte und Mundarten frei zu gebrauchen, eine Freiheit, die freilich nicht für separatistische und die Einheit untergrabende Ziele genutzt werden dürfe. Bei der Behandlung des «Nationalen Sicherheitsrats» (MGK) wurde «mittelfristig» angekündigt, man werde seine (nur) «beratende» Aufgabe durch Überarbeitung der entsprechenden Verfassungsartikel und Gesetze deutlicher machen.
Mit Ausnahme eines kurzen Passus über die Bekämpfung der regionalen Ungleichheiten behandelte das «Nationale Programm» keine wirtschaftlichen Themen. Trotzdem waren diese Maßnahmen von eminenter Bedeutung als Türöffner zur EU. Noch 2001 gewährte Brüssel weitere Finanzhilfen und sonstige Erleichterungen. Eine erste Verfassungsänderung vom 3. Oktober 2001 berührte 37 Artikel des autoritären Grundgesetzes von 1982. Sie schloss die Abschaffung der Todesstrafe für nicht-politische Straftaten ein, nicht aber für «terroristische Verbrechen».Neben Lockerungen, die die Einschränkung der Meinungsfreiheit betrafen, war der wichtigste Punkt die Herstellung einer zivilen Mehrheit im Nationalen Sicherheitsrat, aus dessen
de facto
bindenden Beschlüssen nun echte Empfehlungen wurden. Tiefgreifender waren dann die Gesetzesänderungen vom 30. Juli 2003. Der Rat der Europäischen Kommission hatte schon im Dezember 2001 anerkannt, dass die Türkei «beträchtliche Fortschritte bei der Erfüllung der politischen Kriterien für die Mitgliedschaft erzielt» habe. Man war in die schwierige «Vor-Beitrittsstrategie» eingetreten, die der Türkei fortlaufend neue «Hausaufgaben» auf so gut wie allen Gebieten stellte. Die seit 1998 verfassten, ab 2000 sehr detaillierten «Fortschrittsberichte» aus Brüssel spiegeln diesen Prozess, der bis in die Gegenwart vor allem durch den Widerstand der Regierungen in Berlin und Paris und das ungelöste Zypern-Problem aufgehalten wird.
Die politische Landschaft veränderte sich an der Wende zum 21. Jahrhundert unerwartet rasch: Nach dem Verbot der «Tugendpartei» kam es nach 30 Jahren «Nationaler Sicht»-Bewegung (
Millî Görüş
), die mit Erbakans 1970 ins Leben gerufener
Milli Nizam Partisi
begonnen hatte, erstmals nicht zur
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