Geschichte der Tuerkei
kurdischen Landesteilen an einigen Stellen durch zweisprachige Hinweisschilder zurückgenommen wurden.
Hatten die Publizisten der spätosmanischen Zeit noch von Doppelidentitäten – einer imperialen (als Osmane) und einer darunterliegenden sprachlich-religiösen Zugehörigkeit (als muslimischerAlbaner oder christlicher Araber) – gesprochen, kam für die kemalistische Staatsdoktrin nur noch eine homogene Form von Türkentum in Frage. Alle Verfassungen der Republik definierten «Türke» als Staatsangehörigen der Türkei. 1924 heißt es ausdrücklich «ohne Ansehung des Glaubens und der Rasse», 1961 lautet der entsprechende Artikel «Türke ist, wer auf Grund der türkischen Staatsangehörigkeit an den türkischen Staat gebunden ist», und 1982 «Jeder, den mit dem Türkischen Staat das Band der Staatsangehörigkeit verbindet, ist Türke». Im Gegensatz zu diesem Inklusivismus, der alle Minderheiten einschließt, lebt jedoch die vom ehemaligen Wirtschafts- bzw. Justizminister Mahmud Esad Bozkurt (1892–1943) geprägte Bezeichnung vom «Türken
qua
Gesetz» (
Kanun Türkü
) fort. Dabei gilt die Überzeugung, dass Nichtmuslime
allein
durch ihre juristische Eigenschaft als Staatsangehörige Türken seien. Tatsächlich hat das oberste Gericht bis in die 1970er Jahre ausdrücklich Nichtmuslimen bestimmte Rechte versagt, darunter das Eigentum an Immobilien durch von ihnen gebildete juristische Personen sowie Kirchenstiftungen. Erst 2011 zeichnete sich eine grundsätzliche Gleichstellung von nichtmuslimischen und muslimischen Stiftungen ab. Widersprüchliche Begriffe wie «einheimische Ausländer» kennzeichnen das Unbehagen. Aus den «zukünftigen Türken» der kemalistischen Doktrin wurden nur dem Wort nach «Mitbürger» (Mesut Yeğen).
Eine Anzahl kleinerer Sprachen, die man noch in der frühen Republik hören konnte, war durch Assimilierung zum Aussterben verurteilt. Manchmal trat ein nichttürkisches Idiom an die Stelle der bisherigen Muttersprache. Ein bekanntes Beispiel ist das Ubychische, das in den 1950er Jahren endgültig durch das Adyge, eine andere nordwestkaukasische («tscherkessische») Sprache, verdrängt wurde. Inzwischen erleidet Adyge dasselbe Schicksal wie das Ubychische. Die Nordkaukasier der Türkei pflegen ihre Tradition nur noch auf Türkisch. Arabophone Menschen aus Siirt, die in die kurdische Kernprovinz Hakkâri einwanderten, übernahmen rasch den dortigen Dialekt, ohne dass man diese Siirtli als Kurden versteht. Am Rande des Schwarzen Meers gibt es noch heute muslimische Dorfgemeinschaften, dieeinen armenischen bzw. pontisch-griechischen Dialekt sprechen. Neben den Armeniern, von denen die allermeisten Türkisch als Muttersprache verwenden, waren die Karamanlı (siehe S. 55) die größte derjenigen Gruppen, bei denen sich Konfession (griechisch-orthodox) und Sprache (türkisch) nicht deckten. Von dem Bevölkerungsaustausch wurden sie, weil die Religion das Auswahlkriterium war, nicht verschont.
Als Ergebnis des die gesamte männliche Bevölkerung erfassenden Militärdienstes und einer immer effizienteren Schulpflicht verbreitete sich die Kenntnis des Türkischen auch außerhalb der Städte. Damit wurde Zweisprachigkeit bei den Kurden und den zahlenmäßig viel geringeren Arabern, Lasen und Georgiern zur Regel. Im Südosten des Landes kann man bei Männern zumeist von Zweisprachigkeit ausgehen. Kurden östlich des Euphrats können sich auch auf Türkisch verständigen, Türken in diesem Raum auch auf Kurdisch. Westlich dieser Grenze ist es anders: Hier sind von Kurden gute Türkisch-Kenntnisse gefordert, während die Türken ohne Kurdisch auskommen. 2011 gaben 13,2 % der Kurden bei einer repräsentativen Befragung an, Türkisch als Muttersprache zu gebrauchen. Umfassende Statistiken über die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in der Türkei wurden zu keinem Zeitpunkt veröffentlicht. Die 1987 publizierten Karten des «Tübinger Atlas des Vorderen Orient» (Peter Andrews) erfassten immerhin 47 verschiedene Ethnien im ländlichen Raum. Man muss unterstreichen, dass für die Bevölkerungszusammensetzung der Städte, in denen der Großteil der Menschen heute lebt, keinerlei brauchbare Daten vorliegen. Alle Prozentzahlen, die über die wichtigsten ethnischen und religiösen Gemeinschaften genannt werden, beruhen auf groben Schätzungen.
Die türkischen Streitkräfte tragen die Hauptverantwortung dafür, dass die Türkei – von 1946 bis in die Anfänge des 21. Jahrhunderts –
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