Geschichte der Tuerkei
in die USA, verringerte sich ihre Zahl fortlaufend. Seit den späten 1950er Jahren verzeichnet die Türkei zunächst temporäre, dann sich verfestigende Bevölkerungsverluste durch Emigration. Die Zahl der nach Deutschland ziehenden «Gastarbeiter» erreichte 1974 mit etwa 650.000 Menschen einen ersten Höchststand. Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten, die aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, dem Nahen Osten und dem subsaharischen Afrika einwandern, nehmen seit den 1980er Jahren stetig zu. Allein zwischen 1996 und 2008 nahm die türkische Polizeietwa 800.000 Personen wegen Verstößen gegen Aufenthaltsbestimmungen fest.
Der Bevölkerungsaufbau der Gegenwart unterscheidet sich stark von dem der Gründerjahre der Republik. Verantwortlich dafür sind eine abnehmende Geburten- und Sterberate, eine geringere Kindersterblichkeit und eine deutlich höhere Lebenserwartung von Männern und Frauen – mit erheblichen Folgen für das Sozialversicherungssystem. Seit 1955 sinkt die natürliche Wachstumsrate, es bleibt jedoch eine breite Grundlage der Bevölkerungspyramide, die von Jugendlichen und Erwerbsfähigen unter 40 Jahren gebildet wird. Die türkische Gesellschaft ist immer noch von konservativen Familienstrukturen geprägt: Um die Wende zum Jahr 2000 lag das Heiratsalter zwischen 18 und 24 Jahren, Zweitehen sind selten (4 %) und unverheiratetes Zusammenleben statistisch nicht signifikant (0,6 %) oder einfach unzureichend erfasst. Die Zahl von Eheleuten, die nach der Ziviltrauung eine Bestätigung durch einen Religionsdiener (
imam
) wünschen, ist nach einem Tief in den kemalistischen Jahrzehnten auch im städtischen Milieu deutlich gewachsen.
Das Zahlenverhältnis zwischen ländlicher und städtischer Bevölkerung erlebte einen grundlegenden Wandel. So lebten in den ersten Jahren der Republik noch etwa 80 % der Menschen in ungefähr 40.000 ländlichen Siedlungen. Bei der ersten allgemeinen Volkszählung von 1927 wurde ermittelt, dass 81,6 % der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren. Diesen 4,3 Millionen Menschen standen nur 15.711 Maschinen zur Verfügung. Auch wenn es in den kommenden Jahrzehnten zu einer optimalen Ausnutzung des agrarischen Potentials kam, war die Verstädterung nicht aufzuhalten. Im Jahr 1975 übertraf erstmals die städtische Bevölkerung die Zahl der Landbewohner. Heute entspricht das Verhältnis von Stadt- (69 %) zu Landbevölkerung (31 %) fast genau dem europäischen Durchschnitt. Von einer Industrialisierung einzelner Produktionszweige kann erst in den 1930er Jahren gesprochen werden. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren weniger als 10 % (etwa 700.000) von 8 Millionen arbeitsfähigen Menschen in Handwerk und Industrie tätig, 2010 sind es 30,3 % der arbeitsfähigen Männer. In der Landwirtschaftist der Anteil von weiblichen Beschäftigten (42,4 %) noch sehr hoch.
Die Rolle Istanbuls als kulturelle und wirtschaftliche Metropole blieb trotz des Wachstums der neuen Hauptstadt Ankara, deren Einwohnerzahl sich inzwischen der Fünf-Millionen-Grenze nähert, unangefochten. Nach bescheidenen Zuwächsen bis in die 1940er Jahre überschritt Istanbul in den 1950er Jahren die Millionen-Grenze. 1985 zählte die Stadt 5.843.900 Menschen, wobei ein Fünftel der statistisch erfassten Zuwanderer im Schwarzmeerraum geboren war und nur 2,6 % aus dem kurdisch dominierten Südosten stammten. Die Binnenmigration hat die Stadt auf amtlich gezählte 13.355.685 Einwohner anwachsen lassen. Einem jährlichen Nettowachstum von 7,75 % entsprachen zuletzt 102.583 Personen. Der Bau zweier Autobahnbrücken (1973, 1988) über den Bosporus hat den Personen- und Güterverkehr zwischen der europäischen und der asiatischen Seite vervielfacht. Eine seit 2004 im Bau befindliche unterirdische Regionalbahn wird die Meerenge erstmals in einem erdbebensicheren Tunnel unterqueren. In den letzten zwei Jahrzehnten fand ein beachtliches Höhenwachstum statt, vor dem nur die historische Altstadt verschont wurde. Eine Skyline mit Bürotürmen beherrscht die nördlichen Stadtteile.
Bedeutende Fortschritte wurden im Bereich der Bildung erzielt. So sank der Anteil der weiblichen Analphabeten, der bei Ausrufung der Republik weit mehr als 90 % betrug, allein zwischen 1975 und 2010 von etwa 50 % auf knapp unter 20 %. In der Gegenwart liegt der Einschulungsgrad bei Jungen und Mädchen fast unterschiedslos über 98 %. Auch an den Universitäten haben sich die Zahlen von weiblichen und männlichen
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