Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Stolz auf die Kultur der Eigengruppe, mit dem Chauvinismus der Nationen des späten 19. Jahrhunderts und der Selbstbehauptung von «Minderheitskulturen» gleichgesetzt. Die Autoren sahen imperiale Strukturen als gegeben an und das Ringen um Selbstbestimmung als zerstörerisch und als verantwortlich für die Kriege des frühen 20. Jahrhunderts und die durch sie ausgelösten Flüchtlingsströme. Die legitime Bekräftigung der Gruppenkultur (intern differenziert nach Geschlecht, Generation, Alter, Klassenzugehörigkeit und Region) wurde repressiv, sobald die größte ethnische Gruppe in einem Staat sich nicht nur selbst als «Nation», sondern obendrein alle anderen Kulturen auf demselben Territorium als «Minderheiten» bezeichnete. Die Schaffung solch kultureller Hierarchien stand in diametralem Gegensatz zum politischen Menschenrechtsbegriff des Zeitalters der Revolutionen, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Ungeachtet des Widerspruchs verschmolzen politische Praxis und politische Theorie die Konzepte zu dem nationalstaatlichen Konstrukt, in dem alle Bürger vor dem Gesetz gleich waren – es sei denn, sie waren von nicht-nationaler Kultur, gehörten der Unterschicht an oder waren weiblichen Geschlechts. Die Gleichberechtigung wurde ab der Wende zum 20. Jahrhundert auf Männer der Unterschicht ausgeweitet, und ab den 1920er Jahren auf Frauen. In der gleichen Zeit migrierten Männer und Frauen aus marginalisierten kulturellen Gruppen in Staaten, die ihnen, wenn schon nicht die Gleichberechtigung, so zumindest eine bessere Rechtsstellung gewährten.
Migranten verlassen ihre angestammte Heimat mit den regionalen kulturellen Praktiken im Gepäck. Im späteren 19. Jahrhundert wurden diese im Rahmen von Nationen oder Staaten bis zu einem gewissen Grad homogenisiert, aber der nationale Chauvinismus in den europäischen Reichen verschärfte ethnokulturelle Differenzierungen. In der jeweiligen Zielgesellschaft hielten Migranten an der Sprache, den Ernährungsgewohnheiten und anderen Praktiken des Alltagslebens fest, die sie aus ihren Ursprungsländern mitbrachten. Sie legten den Kaiserkult, die Klassenhierarchien beziehungsweise, als Frauen, die sozialen Geschlechterhierarchien ihrer Ausgangsgesellschaften ab. Migranten zeigen daher sowohl kulturelle Affinitäten zu früheren Lebensweisen und eindeutige Abneigungen gegen die ihnen unakzeptabel erscheinenden Aspekte derselben. Statt mit einer nationalen Identität kamen sie mit kulturellen Praktiken und mit Zielen für Lebensprojekte, die sie «in der Heimat» nicht verwirklichen konnten. (Dies gilt an der Wende zum 21. Jahrhundert in ähnlicher Weise für Migranten, die aus Indonesien oder westafrikanischen Staaten in Nachbarstaaten, nach Europa oder Nordamerika migrieren.)
Neuere wissenschaftliche Publikationen vermeiden den Begriff «nationale Identität» als eine analytische Kategorie, aber sie sondieren weiterhin seine zuschreibenden Funktionen. Sie beschäftigen sich mit der Frage, wie Identifikationsprozesse ablaufen, und diskutieren multiple Identifikationen. Sie erkunden, wie Migranten Beziehungen zu neuen Strukturen, Institutionen, Gemeinschaften und Lebensweisen anknüpfen: sie erforschen Zugehörigkeiten statt Identitäten. Die Selbstorganisation von Migranten bestätigt diesen Ansatz: Migranten aus dem Qing-Reich mögen als «chinesisch» bezeichnet worden sein, aber sie organisierten sich nach ihrer Heimatregion und familiären Gruppe; Migranten aus Europa mögen als «Ungarn» bezeichnet worden sein, aber sie organisierten sich nach regionaler kultureller Affinität. Religionszugehörigkeit und Klasse oder Status spielten bei der Selbstorganisation nach der Migration ebenfalls eine Rolle. Die Institutionen der aufnehmenden Gesellschaft, von denen es früher einmal hieß, sie verlangten eine bedingungslose Preisgabe der früheren Kultur beziehungsweise die «Assimilation» an eine neue nationale Identität, vermitteln Einbettung (oder Ausgrenzung). Neuankömmlinge sind nicht «in einem Schwebezustand» oder gar «entwurzelt» (es sei denn, es handelt sich um Flüchtlinge oder Zwangsmigranten), aber sie eignen sich nur allmählich Wissen über die neuen wandelbaren Strukturen, kulturellen Praktiken und institutionellen Prozesse an. Sobald man Konzepte einer unveränderlichen «Identität» und das Paradigma von «Migrationen aus Nationen in ethnische Enklaven» aufgibt, lassen sich mögliche Schritte hin zu Formen der Teilhabe empirisch beobachten
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