Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
und analysieren. Akkulturation ist der Prozess einer selektiven Verschmelzung alter und neuer Lebensweisen, um mit gesellschaftlichen Strukturen und politischen Institutionen zurechtzukommen und somit neue Identifikationen und Zugehörigkeiten zu entwickeln.
Übergänge werden erleichtert durch unterstützende Migranten- oder ethnokulturelle Selbsthilfestrukturen in Vereinigungen für gegenseitige Hilfe oder durch kulturelle Cluster-Bildung in ethnokulturellen Wohnvierteln. Der ehedem gebräuchliche Begriff «ethnisches Ghetto» implizierte eine national verwurzelte genetische beziehungsweise blutsverwandtschaftliche Identität und suggerierte eine Selbstabsonderung von Migranten, die nicht mit der «neuen Welt» um sie herum klarkamen. «Ghetto» kann auch, empirisch besser fundiert, die Aussonderung durch die aufnehmende Gesellschaft in unterprivilegierte Nischen mit niedrigem Status bezeichnen. Ethnokulturelle Gemeinschaften erreichen nur selten «institutionelle Vollständigkeit», weil ihre erwachsenen Mitglieder täglich den gemeinschaftlichen Raum verlassen, um zur Arbeit zu gehen, oder, was die Jüngeren betrifft, zur Schule. Individuen und Familien versuchen unentwegt den Anforderungen ihrer Lebensprojekte im Rahmen neuer Strukturen und Optionen sowie beibehaltener Aspekte prämigratorischer Lebensweisen gerecht zu werden. Sie balancieren zwischen dem Zusammenhalt der Gemeinschaft und der politischen Stärke, die daraus resultieren mag, und der Offenheit für die vielen Optionen, die die aufnehmende Gesellschaft insgesamt bereitstellt. Kein «Neuengland» oder «Neuspanien», kein «Chinatown», «Little Italy» oder «Little Manila» wurde jemals zu einer getreulichen Kopie der Ausgangsgesellschaft. Alles ging aus Verhandlungen und Kompromissen mit dem neuen Umfeld hervor. Externe Beobachter sahen, wie ethnische Enklaven entstanden, häufig wurden Migranten durch die aufnehmende Gesellschaft segregiert, andererseits erleichterte die Selbstabsonderung in Vierteln und Gemeinden die Akkulturation. Doch wie die Daten für Chicago im Detail zeigen, waren die vermeintlich monoethnischen Gemeinden tatsächlich auf Straßenebene Gebiete geographisch durchmischter Siedlungen mit interethnischen Kontakten, aber ohne integrierte soziale Netzwerke.[ 49 ]
Einigen Gruppen wird nachgesagt, ein Diaspora-Bewusstsein ausgebildet zu haben, eine Konzeptualisierung, die ihren Ursprung in den historischen griechischen und jüdischen Zerstreuungen hat. Die antiken griechischen Migrationen gingen jedoch mit einer Verschmelzung mehrerer Kulturen einher, insbesondere mit der persischen und ägyptischen. So war der Hellenismus beispielsweise eine synkretistische Kultur des östlichen Mittelmeerraums und als solche eher originär als ein Produkt der griechischen Diaspora. Aus den Vertreibungen, Migrationen und Verfolgungen der Juden lässt sich eine idealtypische, wenn auch differenzierte «Diaspora» ableiten: Menschen, die durch Religion, Alltagspraktiken, kulturelle Ausdrucksweisen (hoher Bildungsstand) und – vielleicht – genetische Ähnlichkeit durch erzwungene Endogamie definiert sind, wandern unter Zwang (Zerstörung des Zweiten Tempels durch die römischen Herrscher): westwärts nach Südeuropa und Nordafrika, ostwärts zu den Küstengebieten des Indischen Ozeans. Als Diaspora wurden sie definiert durch eine gemeinsame Erinnerung an ein kulturell-geographisches Heimatland und durch die Kommunikation zwischen den verschiedenen Gemeinschaften in den zahlreichen Ankunftsregionen. Diese Verbundenheit unterscheidet Diasporas von ethnischen Enklaven. Doch statt zu einer Diaspora zu verschmelzen, differenzierten sich Migranten jüdischen Glaubens in eine sephardische und eine aschkenasische Gemeinschaft sowie in verschiedene andere Gruppen in Asien und andernorts. Verschiedenartigkeit einschließlich unterschiedlicher Dialekte mag die Verbundenheit überschatten. Die meisten Migranten-Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts entwickelten keine starke globale Verbundenheit. Italienische, polnische und schottische Migranten breiteten sich weltweit aus, blieben aber nicht immer eng miteinander und mit ihrem Herkunftsland verbunden. Imperiale administrative Kanäle statt Gemeinschaftsbildung in der Diaspora verbanden die weltweiten britischen und französischen Kolonisatoren. Die multidirektionale Wanderung von Südchinesen lässt sich besser anhand der Zielregion analysieren – Nanyang (die südostasiatischen Inseln), Australien, die
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