Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
abzuwandern. Auf dem Höhepunkt des Nationalismus wurde die Akzeptanz des Pluralismus bei den Untertanen in absolutistisch-dynastischen Gesellschaften durch Bestrebungen demokratisch-republikanischer Staaten ersetzt, die Assimilation zu erzwingen.[ 52 ]
Kulturelle und rassische Hierarchien – nicht aber die Ideologie des Nationalstaats – gab es auch in anderen Regionen der Welt. In vielen südasiatischen Gesellschaften galt hellere Hautfarbe als ein Statuskennzeichen; in Teilen Chinas litten Migranten vom Volk der Hakka unter Ausgrenzung; das imperialistische Japan betrieb eine Überlegenheitspolitik, die Koreaner, Mandschuren und Chinesen in untergeordnete Positionen verwies. An der Wende zum 20. Jahrhundert wurden rassifizierende Identitätspolitiken zu Instrumenten der Flüchtlingsgenerierung und der Segregation von Einwanderern. In einem komplexen Wechselspiel wurden migrationsgenerierende nationalstaatliche Politiken mit auf Segregation oder Ausschließung abzielende Politiken der Migranten aufnehmenden Nationalstaaten parallelisiert. Weltweit, aber insbesondere in den atlantischen Ökonomien wurden Arbeitsmigranten zu einer abgesonderten Unterschicht ohne gleichberechtigten Zugang zu den staatlichen Institutionen, die sie mit ihren Steuergeldern mitfinanzierten. Um 1900 konnten sich Juden, Slawen oder mediterrane Migranten, die gesellschaftlich nicht akzeptiert wurden, nur im Verlauf von Generationen integrieren. Als Gebietsansässige blieben sie auch nach der Migration «Fremde», die dem «Ausländerrecht» unterworfen waren und deportiert werden konnten. Unter früheren gesellschaftlichen Ordnungsrahmen konnten Migranten eine Nische finden, oder ihnen wurde ein Status gewährt, der ökonomische Aktivitäten und, oftmals, auch kulturelle Ausdrucksformen erlaubte. Die meistzitierten Fälle sind Hugenotten in Europa und Chinesen in Südostasien. Politiken, die Migranten zu «Anderen» stempelten, erschwerten Integration, Akkulturation und Zugehörigkeit. Obwohl in den 1920er Jahren verhaltene Kritik an Zuwanderungsbeschränkung, (wissenschaftlichem) Rassismus und Diskriminierung geübt wurde, nahm mit Beginn der Weltwirtschaftskrise die Unterstützung für Restriktionen zu. Als Reaktion auf den Rassismus der faschistischen europäischen und der korporatistischen japanischen Expansion und auf die von ihnen ausgelösten gewaltigen Flüchtlingswellen und ihren hohen Tribut an Menschen leben entstanden neue Einstellungen.[ 53 ]
Zum Abschluss sei noch angemerkt, dass der Übergang zu Nationalstaaten auch positive Auswirkungen auf Zugehörigkeiten haben konnte. Gesellschaften konnten zunächst eine begrenzte Beteiligung an der politischen Willensbildung ermöglichen, die «Zugehörigkeiten» schuf. Menschen entwickelten eine Affinität zu ihrer Geburtsnation, wenn sich kulturell-strukturelle Praktiken veränderten, sodass ihnen erweiterte Optionen und mehr Gleichberechtigung geboten wurden. Die Migranten aufnehmenden Gesellschaften, insbesondere die angelsächsischen nordamerikanischen Gesellschaften, viele Länder in Lateinamerika und Australien verfolgten integrative Politiken für weiße Männer und ihre Frauen und Kinder. Im Anschluss an die Dekolonisierung seit den 1950er Jahren führten westliche Politikwissenschaftler und politische Berater das analytisch unhaltbare Konzept des Nationalstaats in die gerade unabhängig gewordenen Staaten ein, die kulturell oftmals sehr heterogen waren.
Farbcodierte koloniale Untertanen
und unfreie Körper
Debatten über Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit hatten ihr Pendant in einem den Körperteilen analogen Beschreibungsmodell für Migranten. Die Forderungen nach zusätzlichen «Händen» (Arbeitern), «Muskeln» oder «braceros» (Handlanger, von brazo , Arm) belegen dies ebenso wie die sexuelle Ausbeutung von Frauen und vielleicht auch von Männern. Die ausgemergelten Körper von «Kulis» bezeugen die physischen Aspekte der Migration, und europäische Arbeiter, die in den USA von Schlägern, die im Dienst von Unternehmen standen, brutal behandelt wurden, hatten das Gefühl, «vergewaltigt» worden zu sein, und erklärten, sie hätten ihre Körper auf einem «Fleischmarkt» verkaufen müssen. Dagegen migrierten «boys» aus der britischen Mittelschicht in ihren Zwanzigern oder Dreißigern in die «White Dominions», wo körperliche Arbeit im Freien «echte Männer» aus ihnen machen sollte. Außerdem argumentierten alle exklusionistischen Bewegungen mit der
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