Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
transnationalen gesellschaftlichen und kulturellen Strömungen zu erfassen. Die Idee der Strömungen stellt denn auch eine zentrale Metapher dar: Sie steht für sich kreuzende Machtströme und eine interaktive, wenn auch oft asymmetrische Dynamik. Das Kapitel bietet eine erste, vorsichtige «Vermessung» einiger globaler Konnektivitäten, die in der jüngsten Forschung zur transnationalen Geschichte herausgearbeitet wurden. Es untersucht Strömungen in fünf Bereichen: internationale regelsetzende Institutionen; transnationale soziale Netzwerke und Bindungen; Ausstellungsorte wie etwa Weltausstellungen, Museen und Gärten; epistemische Zugehörigkeiten, die auf Expertenwissen beruhen; und die spektakulären Ströme von Abenteuern, Medien und Konsumismus für Massenmärkte. Die kulturellen Kreisläufe, die innerhalb solcher Strömungen entstanden, existierten neben der Gewalt, die den Zusammenstoß nationaler Ideologien und die Bildung formeller und informeller Imperien begleitete.
Das Kapitel zeigt zudem, auf welch unterschiedliche Weise die technischen Innovationen der «Moderne» Wissenschaft und Spektakel miteinander versöhnten. Seit den 1870er Jahren erweiterten weltumspannende Technologien (Telegraphenleitungen, Eisenbahnen und schnellere Schiffe, Rundfunk, Kameras, Flugzeuge und anderes) ihren Wirkungsbereich und führten zu rasanten, grundstürzenden Veränderungen. Viele dieser Neuerungen schufen einen säkularen Bereich des «Mirakulösen». In dieser neuen Welt, in der es plötzlich elektrisches Licht und bewegte Bilder gab, hatten die Bilder etwas Überwältigendes; die Geschwindigkeit versetzte in Erstaunen; und die Beleuchtung schien die Dunkelheit im physikalischen wie im metaphorischen Sinne hinwegzufegen. Es winkten neue Möglichkeiten: die Möglichkeit eines Überflusses, den Industrietechnologien und Handel zu prognostizieren schienen; die Möglichkeit, starke Körper und starke Nationen zu schaffen; die Möglichkeit, «modern» zu sein, was immer das auch für den bedeutete, der den Begriff im Munde führte; die Möglichkeit ultimativer Waffen und endgültiger Siege im Krieg.
Was die Wissenschaft und Technologie des modernen Zeitalters angeht, so waren die Menschen überall auf der Welt in ganz unterschiedlichem Maße damit konfrontiert, aber kaum jemand konnte sich ihrer Faszination und ihren sich wellenförmig ausbreitenden Wirkungen entziehen. Die aufsehenerregenden Schauspiele, die in den Narrativen mechanischer und wissenschaftlicher Veränderung enthalten waren, zogen die Menschen auf allen Kontinenten in ihren Bann und animierten viele dazu, eine Version des Fortschritts zu feiern, der nicht einfach vom Westen aufgezwungen, sondern ein globales Phänomen war, erzeugt an ganz unterschiedlichen Orten. Gleichzeitig konnten Technologien und Spektakel der Moderne die Menschen aber auch auf ganz andere Weise «in Beschlag nehmen», nämlich indem sie Regime rassischer und geographischer Ungleichheit stärkten. Die Sirenen der Moderne konnten mit Gesängen von Freiheit und Selbstbestimmung locken und dabei die beinharten Hierarchien der Macht verschleiern.
Wie mein Kapitel zeigt, bilden «Homogenisierung und Differenzierung, das Globale und das Lokale, Trans- oder Internationalismus und Nationalismus, Vernunft und Spektakel» keine Gegensatzpaare, sondern sie ergänzen sich und stehen in diesem Zeitalter transnationaler Netzwerke in einem schöpferischen Spannungsverhältnis zueinander. Scheinbar binäre Pole erweisen sich als «koproduktive» Gegenstücke, die zusammen die Landschaft der Moderne bilden.
Der vorliegende Band befasst sich also mit den Übergängen und netzwerkartigen Verbindungen des im Wandel begriffenen industriell-kommerziell-imperialen Zeitalters zwischen 1870 und 1945. Er versucht, sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zu erfassen, die in diesem Zeitraum entstanden; in ihm findet sich das Versprechen der Vernetzung ebenso wie der zerstörerische Hass, beide erzeugt in den Strömungen einer schrumpfenden Welt. Die thematische Anordnung der Kapitel, die der jüngsten Forschung viel verdankt, rückt Prozesse in den Mittelpunkt, nicht Orte, und zeigt, dass zeitliche Zuschreibungen und Periodisierungen kontingente Rahmenordnungen bilden. Insgesamt gesehen stellen die fünf Kapitel die Prozesse der Staatsbildung und des empire building in den Vordergrund, bringen diese aber gleichzeitig in einen Zusammenhang mit anderen Themen, in deren Zentrum Ströme,
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