Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Begegnungen und Netzwerke stehen. Die hereinbrechende Modernität dieser Epoche war geprägt von beidem, von Wandel und Heterogenität wie auch von Stabilisierung und Einhegung.
LEVIATHAN 2.0
Die Erfindung moderner Staatlichkeit
Charles S. Maier
2. UMBAU IM WELTMASSSTAB (1850–1880)
Eine globale Transformation
Die Entwicklungen zwischen 1850 und 1880 führten überall auf der Welt zu bedeutenden Transformationen in der Organisation von Staaten. Sie stellen insofern einen echten «weltgeschichtlichen Augenblick» dar. Die politischen Zuständigkeitsbereiche veränderten sich, als die Territorialstaaten von innen her zerrissen und anschließend auf einer solideren Grundlage neu konstituiert wurden. Lokale Machthaber stellten fest, dass ferne Autoritäten mehr Einfluss auf ihre Macht und ihre Finanzen hatten. Die soziale Herkunft der Menschen, die öffentliche Ämter und Einfluss anstrebten, wurde vielfältiger. Ob aufgrund ihrer beruflichen Bildung oder ihres Reichtums aus Industrie und Finanzwesen: Newcomers, die nicht aus den Reihen der Grundbesitzereliten, der alten Familien oder des Militärs kamen, erlangten ein viel größeres Mitspracherecht in öffentlichen Angelegenheiten. Allerdings traten sie eher selten an die Stelle der früheren herrschenden Gruppen, sondern wurden rekrutiert, um zusammen mit diesen dem Staat zu dienen, und zwar immer dann, wenn ihr Ausschluss das Überleben oder die Stabilität des betreffenden Staates gefährdet hätte.
Die Kommunikation, die Migration von Menschen und der Transport von Waren über große Entfernungen hinweg beschleunigten und verdichteten sich. Der globale Raum wirkte wie ein Kontinuum, das nicht mehr von göttlicher Transzendenz, sondern vom Vibrieren unsichtbarer Energie erfüllt war. Paradoxerweise wurden die Denksysteme trotz des Gewahrseins rasanter Kommunikation nicht wirklich kosmopolitischer und toleranter. An die Stelle der Träume von Brüderlichkeit traten oft Vorstellungen tiefster Rivalität und allgegenwärtigen Konflikts. Der Krieg «erfüllt seine grausame, aber unverzichtbare Rolle für den Fortschritt des menschlichen Geistes», schrieben italienische Beobachter des preußischen Triumphs über Frankreich im Dezember 1870.[ 56 ] Der Appell an die Brüderschaft verschob sich von den Patrioten und Poeten auf die Proletarier, die ihre vermeintlichen Klassenbrüder willkommen hießen.
Diese Entwicklungen stellen uns vor zwei grundlegende Rätsel. Erstens: Warum traten so viele entscheidende Veränderungen offenbar gleichzeitig und so plötzlich auf? Das Tempo des Wandels ist bei umfassenden Phänomenen häufig rätselhaft – für viele Bereiche lassen sich zwar «tipping points» ausmachen, also «Umschlagpunkte», aber warum sie auftreten, bleibt für Naturwissenschaftler und Historiker gleichermaßen eine Herausforderung. Der zweite Punkt ist, warum so viele Staaten und Gesellschaften weltweit zur gleichen Zeit analoge Veränderungen erlebten. Die zeitliche Dichte und die räumliche Ausdehnung bleiben erklärungsbedürftig. Warum wird Geschichte global? Der Wiederaufbau von Staaten wurde in der westlichen Hemisphäre zu einer Notwendigkeit, ob in den geteilten und dann neu konstituierten Vereinigten Staaten, in einer neu organisierten kanadischen Föderation, in Mexiko, das riesige Gebiete an seinen Nachbarn im Norden verlor, dann aber die französischen Invasoren besiegte, oder in Argentinien, das die Diktatur abschüttelte. Auch Europa wurde in der Mitte und an den Rändern neu strukturiert. In Italien und Deutschland gelang den Nationalisten die Einigung; Österreich-Ungarn tarierte sein ethnisches Machtgleichgewicht neu aus; die spanische Monarchie wurde abgeschafft, kurzzeitig pulverisiert und dann wieder zusammengeschustert; der osmanische Staat definierte seine konstituierenden Prinzipien neu; und im russischen Kaiserreich waren das Militär und die Bürokratie bemüht, die hartnäckigen Behinderungen durch die Leibeigenschaft zu beseitigen. In Ostasien beschlossen ambitionierte japanische Samurai-Beamte, mit der Schaffung eines effektiven, modernen Staates die verknöcherten Shōgunate in Frage zu stellen, und frustrierte chinesische Beamte bedienten sich konfuzianischer Prinzipien, um die Katastrophenerfahrung ihres Gemeinwesens – Rebellionen, Überschwemmungen, Übergriffe von außen – zu revidieren.
Der Prozess war ohne Zweifel ansteckend. Staaten existieren in einem implizit kompetitiven Universum. Bedeutsame Aktionen und
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