Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Alkoholabstinenz und gegen Prostitution. Insbesondere ernsthaft engagierte Frauen aus der Mittelschicht, die nicht in die Politik gehen konnten, widmeten ihre Energie diesen Bemühungen in Sachen Anstand und Nüchternheit.[ 57 ]
Im Westen waren diese reformorientierten, mitunter allerdings auch bevormundenden Einstellungen ein oder zwei Jahrzehnte vor der Jahrhundertmitte auf gekommen. Die Entstehung von Reformvereinen, die in den 1830er Jahren in Großbritannien und den USA einsetzte, in den darauffolgenden Jahrzehnten aber den gesamten europäischen Kontinent erfasste – ob in Gestalt der Gesellschaften des Heiligen Vinzenz von Paul in Frankreich oder des Evangelischen Kirchentags in Deutschland –, war Teil der enormen organisatorischen Anstrengungen, welche die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts unternahm. Eine ähnliche Ernsthaftigkeit zeichnete in nicht-westlichen Gesellschaften diejenigen aus, die auf die westliche Herausforderung reagierten. Christliche wie muslimische Intellektuelle überall in der Levante und in Ägypten plädierten dafür, die östlichen Gesellschaften zu stärken, indem man sie dazu drängte, mehr über die jüngsten wissenschaftlichen Fortschritte und Entdeckungen in Europa zu erfahren, und den «Morgenländern» ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelte.[ 58 ] Der außerordentliche Einfluss der didaktischen Schrift Self-Help (1859) des britischen Schriftstellers Samuel Smiles zeugte von der Suche nach selbststärkenden Maßnahmen. Der schottische Autor begann als politischer Reformer und Kritiker des Laisser-faire, nicht als selbstzufriedener Rechtfertiger von Erfolg oder Reichtum. In Kairo und Beirut wurde schon 1886 eine arabische Übersetzung veröffentlicht, die mehrere Auflagen erfuhr. Der Traktat erschien 1871 auf Japanisch, dann auf Chinesisch und 1913 auf Panjabi. Von der japanischen Ausgabe wurden eine Million Exemplare verkauft.[ 59 ]
Der Dichter Henry Wadsworth Longfellow, dessen höchste Begabung darin bestand, der Frömmigkeit der Mittelschicht sentimentalen Ausdruck zu verleihen, schrieb: «Das Leben ist echt, das Leben ist ernst, und das Grab ist nicht sein Ziel.» Vor allem anderen war die Welt der Jahrhundertmitte ernst. Die Staatenbildung spiegelte diese Ernsthaftigkeit wider. Die persönlichen Regime der 1820er und 1830er Jahre, an deren Spitze brillante, reformorientierte, aber oft auch autokratische Generäle standen – ob Simon Bolívar, der «Befreier» in Kolumbien und Venezuela, oder Muhammad Ali in Ägypten und im Nahen Osten –, schienen für die Dekaden der Jahrhundertmitte weniger geeignet. Man denke nur an die wiederholten Katastrophen, die der aufgeblasene mexikanische General López de Santa Ana heraufbeschwor. Giuseppe Garibaldi, dessen kleines Expeditionskorps 1860 in Sizilien und Süditalien den Volksaufstand entfachte, kam dem lateinamerikanischen Modell am nächsten, doch als er die Mitte der Halbinsel erreichte, überstellte er seine Truppen denen, die Italiens Einheit von Norden aus organisierten. Die Führungspersönlichkeiten, die der Staatenbildung ihren Stempel aufdrückten, waren seriös und konservativ, sie verkörperten gravitas und Geduld: Abraham Lincoln, Benito Juárez, Otto von Bismarck, Itō Hirobumi, der bis ins 20. Jahrhundert in der Meiji-Politik aktiv war, oder der bemerkenswerte Zeng Guofan, der den Sieg über die Taiping organisierte und sich unermüdlich für die Technisierung und Modernisierung Chinas einsetzte. Die Bedingungen in China sorgten jedoch dafür, dass sich solche hellsichtigen Empfehlungen nicht auf Dauer durchsetzen konnten.
Die Staatenwelt, die sich um 1880 herausgebildet hatte, unterschied sich von der eine Generation früher, in Asien ebenso wie im Westen. Nunmehr würde sich der Staat um ernsthafte soziale Fragen kümmern müssen, auch wenn einige seiner Organisatoren noch zögerten: um das Elend der Bauern in Mitteleuropa und im Westen Nordamerikas, um die Regelung der Fabrikarbeit und um die Rentenproblematik in Deutschland, um die Opiumsucht und die militärische Rückständigkeit in China. Nunmehr würde der Staat die Gesellschaftsreform ebenso in Angriff nehmen wie das Streben nach nationaler Macht. Es war eine Welt der Projekte und der Arbeit – der harten Arbeit, Unternehmen zu organisieren, die Bildung zu reformieren, dicke Romane und große Symphonien zu schreiben, ambitionierte politische Programme voranzutreiben, Menschen mit dunklerer Hautfarbe besser zu stellen und sie zugleich
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