Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Initiativen in einem Staat haben zwangsläufig Auswirkungen auf andere. Aber es ging nicht nur um Ausbreitung oder Ansteckung. Auch innerhalb zahlreicher Gesellschaften entstand zeitgleich ein enormer Veränderungsdruck; wir haben es mit einem genuin globalen «Moment» zu tun. Wir können den Gang der Geschichte nicht noch einmal ablaufen lassen, um zu testen, ob auch «isolierte» Regime ihre Institutionen umgebaut hätten oder nicht. Vor 1850 war der japanische Staat das Gemeinwesen, das vermutlich am stärksten gegen ausländische Einflüsse abgeschottet war. Er geriet erst dann in eine fünfzehn Jahre dauernde Krise und Transformationsphase, als die Welt draußen schließlich entschlossen schien, die verschlossenen Tore aufzustoßen, aber mit Sicherheit baute sich auch in der eigenen, stark geschichteten Gesellschaft vielfältiger Druck auf, der eine weitreichende Anpassung erforderlich gemacht hätte, und wir wissen nicht, wie viel Veränderung diese inneren Pressionen für sich genommen erzwungen hätten. Ging Veränderung überdies stets «von unten» aus? Marx traf eine berühmte Unterscheidung, nämlich zwischen den «Produktivkräften» – dem technologischen Niveau und den Gesellschaftsklassen, die es nach vorne brachte – und den «Produktionsverhältnissen», die in den rechtlichen und politischen Institutionen zum Ausdruck kommen. Der Druck der Erstgenannten führte in seinen Augen zu Krisen und revolutionären Anpassungen bei Letzteren. Doch die meisten Historiker beschreiben das Ganze wahrscheinlich als rekursiven Prozess mit zahlreichen «Rückkopplungen», so wie sie von einem rekursiven Verhältnis zwischen dem Bereich der Ideen und dem des wirtschaftlichen Fortschritts ausgehen.
Zudem veränderten sich zahlreiche Aspekte des gewöhnlichen Lebens in dieser Zeit qualitativ überhaupt nicht oder in weniger heftigem Tempo. In unserer Geschichte geht es um die Welt politischer Transaktionen, nicht um das Dasein der Haushalte und nicht um die intimen Loyalitätsbindungen. Für unzählige Menschen hatten die hier geschilderten Ereignisse offenbar keine Auswirkungen auf das alltägliche Leben. Der Arbeiter, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einer lärmerfüllten Textilfabrik arbeitete, das Dienstmädchen, das putzte und kochte, der junge Mann, der in Liebe entflammt war zu der jungen Frau, welcher er tagtäglich auf der Straße begegnete, das Kind, das von seinem Stiefvater verprügelt wurde, die Bauernfamilie, die aufgrund von Dürre und Erosion vom Hunger bedroht war – sie alle hatten vermutlich nicht das Gefühl, dass ihr Leben durch einen gemeinsamen Souverän für Neapel und Florenz, durch ein neues Bürgerliches Gesetzbuch in Deutschland, durch eine Neudefinition der osmanischen Staatsbürgerschaft oder durch die Zerstörung des kaiserlichen Sommerpalasts in China durch französische und britische Soldaten irgendeine großartige Veränderung erfuhr. Die Chance, einen Abgeordneten für das nationale Parlament zu wählen, ermöglichte es dem missbrauchten Kind nicht, zurückzuschlagen, oder dem Dienstmädchen, aufsässig zu sein, oder in vielen Weltgegenden der jungen Frau, in Herzensangelegenheiten ihren Neigungen zu folgen. Gleichwohl wurde noch die einfachste Existenz unwiderruflich vom Staat berührt. Die Staaten konnten die Bildungschancen ausweiten, Beschäftigung fördern, Zu- und Abwanderung erleichtern (oder behindern), auf einem Ende angeborener Leibeigenschaftsverhältnisse beharren – auch wenn darauf oft nur die Zwänge harter landwirtschaftlicher Arbeit und der Fabrikdisziplin folgten. Staaten konnten die Möglichkeiten persönlicher Erfüllung und häuslichen Lebens mitunter erweitern, mitunter aber auch einschränken. Umgekehrt jedoch hatten der Druck und die Belastungen in Millionen von Haushalten auch Staaten ins Schlingern gebracht.
Der Staat sollte gestärkt werden, aber in erster Linie, um in einer Welt des staatlichen Wettstreits überlebensfähig zu bleiben, und nur indirekt, um mit den Problemen der Armut und der Einkommenssicherung fertig zu werden, es sei denn, es galt die Ordnung aufrechtzuerhalten. Beobachter neigten dazu, die sozialen Kosten des ökonomischen Wandels als Problem individueller oder familiärer Schwierigkeiten zu betrachten, die mitunter auf Armut, manchmal auf moralischem Versagen beruhten. Sie organisierten Wohltätigkeitsveranstaltungen, gründeten Wohlfahrtsvereine, trieben Bildungsreformen voran und kämpften später für
Weitere Kostenlose Bücher