Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Massendemonstrationen nach, so etwa in Belgien 1913. Gleichwohl gab es oft auch Widerstand dagegen. In Preußen widersetzten sich Konservative und der Monarch Forderungen, das Wahlrecht für das preußische Parlament von einem Recht für Reiche in ein allgemeineres System des «one man, one vote» zu ändern, bis sie gegen Ende des Ersten Weltkriegs plötzlich das Bedürfnis verspürten, sich bei der Arbeiterklasse Unterstützung zu holen. In Russland wurde ein allgemeines Wahlrecht für die breite Masse, das im Revolutionsjahr 1905 als Zugeständnis eingeführt worden war, bis zum Sturz der Monarchie 1917 nach und nach wieder zurückgestutzt. Und sowohl Linke als auch Rechte konnten sich den Forderungen neuer Gruppen verweigern (etwa im Falle des Frauenwahlrechts oder des Wahlrechts für Afroamerikaner in den Südstaaten der USA).
Zudem sagt das Wahlrecht als solches noch nichts über die Stärke oder die Defizite demokratischer Institutionen und Kultur aus. Verschiedene Parlamente verfügten über ein unterschiedliches Maß an Macht gegenüber Staatsoberhäuptern, Militär oder Bürokratie. Verortet man die nationalen politischen Institutionen entlang einer Achse, so reicht diese von demokratischer Partizipation (wie in der dritten französischen Republik) bis zu weiterhin bestehendem Einfluss für alte Familien und Bürokraten, der unterschiedlich stark und liberaler oder weniger liberal ausfallen kann, wie in Großbritannien, Deutschland oder Japan. (Lokale und regionale Autorität lässt sich mit Hilfe eines ähnlichen Kontinuums beschreiben, sie konnte jedoch auch an einem ganz anderen Punkt zu Fall kommen.)
Eine einzige einheitliche Skala zur Klassifizierung von Demokratie (wie das etwa im Falle heutiger Regierungen die Organisation Freedom House versucht) ist jedoch für die damalige Zeit wenig sinnvoll. Einige Staaten blieben, was man als konstitutionell segmentiert bezeichnen könnte, ganz unabhängig davon, was ihre geschriebenen Verfassungen vorsahen. Sie waren geteilt in einen Bereich der erwachsenen Bevölkerung, der politische Partizipation ausüben durfte, und in einen oder mehrere Sektoren, die davon ausgeschlossen blieben. In geschlechtsspezifischer Hinsicht waren die meisten Gemeinwesen bis ins 20. Jahrhundert hinein gespalten, doch selbst wenn man von der Benachteiligung von Frauen absieht, waren einige Gesellschaften durch regionale «Rückständigkeit» und den Ausschluss bestimmter Ethnien segmentiert. Der italienische Staat wurde von einer liberalen Parlamentarierklasse regiert, die nördlich von Rom Wahlkämpfe führte, im Süden jedoch von Patronage, Klientelwesen und der Stärke der Großgrundbesitzer abhängig war, was wie eine Art Gegengewicht wirkte, um die destabilisierende Wirkung dieser Rivalitäten im Norden in Grenzen zu halten.
Die amerikanische Politik blieb rassisch gespalten. Die Republikanische Partei beendete in den späten 1870er Jahren ihr kurzzeitiges Bemühen, die frisch beschlossenen politischen Rechte für ehemalige Sklaven durchzusetzen, um das Präsidentenamt zu behalten. Die zweigeteilte Regelung, die im Norden sogar frisch Zugewanderten das (Männern vorbehaltene) Wahlrecht zugestand, während im Süden ein Teil der Bevölkerung aus rassistischen Gründen von den Wahlen ausgeschlossen blieb, ermöglichte dem Land eine sektionale «Versöhnung», allerdings um den Preis, dass Gesetze zur Rassentrennung und lokale Repression durch das inoffizielle Lynchgesetz weiterhin geduldet wurden. In der herrschenden Atmosphäre akzeptierten weiße Amerikaner im Norden wie im Süden schließlich die Sichtweise, wonach die Afroamerikaner noch nicht «bereit» seien für gleiche Bürgerrechte – das entsprach der europäischen Kolonialhaltung gegenüber den asiatischen und afrikanischen Untertanen, und in der Tat lieferte der «Pool» schwarzer Arbeitskräfte die Ressourcen für eine nicht-territoriale Kolonie. Die wieder vereinigten Vereinigten Staaten kamen auch in den Genuss der wichtigen geographischen Ressource der Gebiete im Westen, die als stabilisierendes Ventil für nationale Energie dienten.
Auch der massenhafte Zustrom europäischer Immigranten führte damals dazu, dass man sich auf ethnische Repräsentation mittels politischer «Maschinen» in den einzelnen Staaten und Städten konzentrierte, statt auf der Vorherrschaft auf nationaler Ebene zu beharren. Überdies stellten sie keine «radikalen» Forderungen: Die Arbeiter aus Nord- oder Osteuropa gründeten an
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