Geschichte des Gens
dessen Wirkung man bei solchen Versuchen beobachten konnte, und noch konnte niemand sehen, wie Delbrück von Löchern im Bakterienrasen zu Orten auf Chromosomen kommen wollte.
Abb. 4: Das Entstehen von Plaques auf einem Bakterienrasen
Sein Ansatz funktionierte aber nicht nur nach dem Prinzip Hoffnung, sondern darüber hinaus nach dem Grundsatz, dass selbst derjenige, der nicht viel über Gene weiß, immer noch annehmen kann, dass sie über eine grundlegende Eigenschaft allen Lebens verfügen müssen, nämlich die, sich verdoppeln zu können. Diese Eigenschaft stellte Delbrück in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, und mit den Phagen hatte er etwas aus dem Bereich der Biologie gefunden, das nichts anderes konnte, als sich zu verdoppeln und zu vermehren.
Möglicherweise waren die Phagen, die Löcher im Bakterienrasen hinterließen, nichts anderes als frei zirkulierende Gene, wie Delbrück spekulierte, deren Wirkung sich präzise ermitteln ließ. Und wenn er damit auch nicht völlig ins Schwarze getroffen hat, sehr weit daneben hat er nicht gelegen.
Man könnte sagen, dass sich Morgan und andere klassische Genetiker dem Gen von oben her näherten, während Delbrück und andere Molekularbiologen ihm von unten her auf die Spur kamen. Die entscheidende Beobachtung gelang dem deutschen Biophysiker in Zusammenarbeit mit dem italienischen Arzt Salvatore Luria, als die beiden sich mit einem seltsamen Phänomen beschäftigten, das sie als »sekundäres Wachstum« bezeichneten. Mit dem Begriff ist das Wachsen von Bakterien gemeint, das sich in einem Laboratorium beziehungsweise in den dazugehörigen Behältern gewöhnlich dadurch zeigt, dass eine Nährlösung erst trübe und dann undurchsichtig wird. Gibt man solch einer Bakterienlösung passende Phagen hinzu, kann man deren Wirkung - die Zerstörung der Bakterien - nach einiger Zeit dadurch mit dem unbewaffneten Auge erkennen, dass die Lösung wieder durchsichtig wird. Normalerweise werden die jetzt zerstörten Bakterienkulturen entsorgt und die Gefäße für neue Versuche präpariert. Doch im Verlaufe ihrer zahlreichen Versuche kamen Delbrück und Luria dieser Pflicht nicht immer sofort nach, und dabei fiel ihnen auf, dass einige Behälter wieder trübe wurden. Die Bakterien hatten zu einem zweiten (sekundären) Wachstum angesetzt, und darüber konnte man sich wundern. Der Grund für dieses Wundern lag darin, dass die primär gewachsene Bakterienkultur nur mit Zellen angelegt worden war, die von den Phagen angegriffen und aufgelöst werden konnten, während die jetzt nachgewachsenen Bakterien sich sämtlich als widerstandsfähig (resistent) gegenüber dem Angriff der Phagen erwiesen. Wie war der Wechsel von anfälligen (»suszeptiblen«) zu abwehrfähigen Bakterien vonstatten gegangen? Woher kam die Resistenz gegenüber den Phagen?
Die kurz darauf gemachte Beobachtung, dass die Bakterien die neuerworbene Widerstandsfähigkeit an ihre Nachkommen weitergeben, dass Resistenz also eine genetische Eigenschaft sein musste, legte die Vermutung nah, dass die Phagenresistenz in den Genen steckte. Dieser Gedanke erwies sich als richtig. Es musste also zu einer Mutation in den bakteriellen Zellen gekommen sein. Die entscheidende Frage lautete jetzt, wie diese Variante in die Bakterien gekommen war. Folgende Alternative war denkbar:
Entweder war die Mutation durch das Auftreten der Phagen bewirkt (induziert) worden, oder sie war durch Zufall (spontan) entstanden. Wenn sich das Zufällige der Mutation nachweisen ließe -so räsonierten Delbrück und Luria -, dann wüsste man erstens, dass Bakterien ebenso Gene haben wie die Organismen, mit denen Mendel, Morgan und andere gearbeitet hatten, und man wüsste zweitens, dass Darwins Vermutung von spontan auftretenden Variationen als Grundlage der biologischen Evolution keine schlechten Chancen hatte, die Wirklichkeit zu erfassen - eine bessere jedenfalls, als die immer noch in vielen Kreisen verbreitete Ansicht, dass sich auch erworbene Eigenschaften vererben ließen. Aber wie - so lautete nun die entscheidende Frage - kann man zeigen, dass die Phagenresistenz der Bakterien nicht induziert wird, sondern spontan in ihnen auftritt?
Die Antwort darauf gibt die berühmte »Fluktuationsanalyse« (Abbildung 5), die Delbrück und Luria zum Jahreswechsel 1943/44 vorlegten und für die sie 1969 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurden (gemeinsam mit dem bereits erwähnten Hershey, dessen wichtigstes Experiment noch vorgestellt
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