Geschichte des Kapitalismus
Entbehrung gelitten, innerhalb und auÃerhalb der Fabrikindustrie. Die Kinderarbeit im Bergwerksstollen, die lange Reihe gleichgerichteter junger Frauen an den Maschinentischen der Mechanischen Spinnerei, das Wohnen in dunklen Kellern überfüllter Mietshäuser im Arbeiterquartier der schnell wachsenden Stadt, der verzweifelte Aufstand der schlesischen Weber, von Gerhart Hauptmann auf die Theaterbühne gebracht â das sind Bilder von Elend und kapitalistischer Ausbeutung, die sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Dem ist hier ebenso wenig im Einzelnen nachzugehen wie der allmählichen, wenngleich immer wieder durch Krisen und Kriege unterbrochenen Aufwärtsentwicklung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, die in einem groÃen Teil der Welt und trotz fortbestehender und neu entstehender Bereiche der Ausbeutung und Armut mit fortschreitender Industrialisierung stattgefunden hat. Nach zahllosen Anstrengungen und Konflikten, Innovationen und Reformen in der Arbeitswelt wie in Gesellschaft und Politik hat sich Lohnarbeit zutiefst verändert. In einem groÃen, durch Unternehmenswirtschaft bestimmten Kernbereich haben sich bis zum dritten Viertel des 20. Jahrhunderts am Ziel des Familienlohns orientierte Verdienstzunahme, entschiedene Arbeitszeitverkürzung (wenn auch bei ähnlich entschiedener Arbeitsintensivierung), Risikoabsicherung durch verbriefte Ansprüche im Fall von Entlassung, Unfall, Krankheit und Alter sowie individuelle und kollektive Arbeiterrechte in hohem Maà durchgesetzt, wenngleich um vieles weiter gestritten wird. Für die so gefundenen Arrangements hat sich der positiv gemeinte Ausdruck «Normalarbeitsverhältnis» eingebürgert, der vergessen lässt, dass diese Errungenschaft über die Jahrhunderte alles andere als normal war, weltweit auch heute die Ausnahme darstellt und durch neuere Entwicklungen auch dort in Frage gestellt wird, wo sie durchgesetzt war.[ 89 ] Hier seien nur kurz die drei wichtigsten Motoren jener Entwicklungen genannt, die das «Normalarbeitsverhältnis» ein Stück weit realisiert haben. Sie hängen wesentlich mit Lohnarbeit zusammen.
(1) In den Unternehmen wurden Produktivitätsfortschritteerzielt, die die genannten Verbesserungen erst möglich machten. Diese wären aber ohne Lohnarbeit schwer denkbar gewesen. Denn nur diese, anders als die früher dominierenden Formen gebundener Arbeit, besitzt die Flexibilität, die es kapitalistisch kalkulierenden Unternehmensleitungen erlaubt, Arbeitskräfte in Bezug auf den Unternehmenszweck optimal zu rekrutieren, umzuschichten und eventuell zu entlassen, zugleich aber die «Kosten» dieser Flexibilität (etwa im Fall der Entlassung) zu externalisieren, was die Unternehmen entlastet und die Gesellschaft in Pflicht nimmt. Im Interesse an zunehmender Produktivität haben überdies zahlreiche Unternehmensleitungen auf fortgeschrittener Stufe der Industrialisierung entdeckt, dass Arbeitszeitverkürzung, schonender Umgang mit der Ressource «Arbeitskraft» und gewisse Konzessionen an Arbeiterforderungen auch dem Unternehmenserfolg nützen. Nicht nur philanthropisch-sozialreformerisch gesinnte Unternehmer, die es wie Robert Owen in Schottland oder Ernst Abbe in Jena immer gab, sondern auch nüchtern rechnende Manager und Kapitaleigner wurden ein Stück weit zu Reformern der Arbeit in ihren Unternehmen, besonders in Branchen, die hohe Anforderungen an die Qualifikation des Personals stellten.
(2) Doch hätte das nicht gereicht. Mindestens so wichtig war deshalb ein zweiter Antrieb: die staatliche Intervention. Die Bereitschaft staatlicher Instanzen, Missstände in der Arbeitswelt durch Gesetze, Verordnungen und Kontrollen zu bekämpfen und Arbeitern Rechte zu sichern, hatte viele Motive. Eines jedoch hing mit der öffentlichen Sichtbarkeit zusammen, die Lohnarbeit dazu gewann, wenn sie nicht mehr im Haus, auf dem Hof oder in anderen traditionalen Beziehungen, sondern separiert, in der Fabrik oder Zeche stattfand. Das galt beispielsweise für Kinderarbeit, die als Teil des landwirtschaftlichen Betriebs und der gewerblichen Heimarbeit über Jahrhunderte selbstverständlich gewesen war, aber, herausgelöst aus Familie und Haushalt, zum Problem wurde, das insbesondere von der pädagogisch engagierten Ãffentlichkeit wahrgenommen und kritisiert wurde: ein wichtiger Beitrag zur Politisierung des Problems und zum staatlichen
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