Geschichte des Kapitalismus
Natural- und Geldlöhne häufig das schmale Einkommen, das der Einzelne oder seine Familie zugleich aus anderen Quellen, z.B. aus Kleinstlandbesitz, bezog. In ein und derselben Familie lebten, an ein und demselben Arbeitsort arbeiteten oft Personen mit verschiedenem Erwerbsstatus zusammen, so wie auf den frühneuzeitlichen Plantagen in der Karibik Sklaven, auf Zeit verpflichtete «indentured labourers» und freie Lohnarbeiter koexistierten. Mit dem Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft und in die Heimarbeit nahm die Zahl der Lohnarbeiter vor allem auf dem Lande zu. Durch die allmähliche Lockerung der herkömmlichen Bindungen (z.B. der Abhängigkeit des Handwerksgesellen von seinem Meister und dessen Zunft) und durch die zunehmende Einbeziehung der Arbeitenden, etwa von Handwerkern und Heimarbeitern, in überregionale Marktbeziehungen verstärkte der Kapitalismus überdies die Elemente von Lohnarbeit innerhalb herkömmlicher Arbeitsverhältnisse. Auch in Bezug auf die abhängig Arbeitenden galt: Kapitalistisch bestimmte Sozialbeziehungen traten selten abrupt und das Alte zerstörend auf, vielmehr nisteten sie sich in herkömmlichen Sozialbeziehungen ein, dehnten, lockerten und relativierten sie (durchaus unter Spannungen und Konflikten) und veränderten sie schrittweise. Ein und dieselbe Person mochte im Lauf ihres Lebens wechselnde Stellungen einnehmen, und zu diesen gehörten oft auch Phasen der ausgeprägten Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit, wohl auch der hilfsbedürftigen Armut.
Es leuchtet ein, dass sich diese durch unzählige Ãbergänge und Mischungen gekennzeichnete Gemengelage nicht sauber unterteilen und deshalb nur schwer quantifizieren lässt. Aber: Benutzt man einen groÃzügigen Begriff von «proletarisch» und rechnet man die Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter, die landwirtschaftlichen Arbeiter und Heimarbeiter, die Arbeiter derManufakturen und Bergwerke wie auch Gesindepersonen und Gesellen dazu, dann kann man mit Charles Tilly schätzen, dass in Europa 1550 etwa ein Viertel und 1750 knapp 60 % der Bevölkerung den proletarischen Schichten zuzurechnen waren. Davon lebte mehr als die Hälfte auf dem Lande. Es war mithin keine heile, klar geordnete oder gar statische Welt, die dann der Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts veränderte, sondern eine Welt in Bewegung, mit wenig formalisierten Arbeits- und Lebensverhältnissen, voll Knappheit, Not und Bedrängnis â jedenfalls in dem groÃen und rasch wachsenden Sozialbereich unterhalb der ländlichen und städtischen Mittelschichten.[ 86 ]
Doch erst im 19. und 20. Jahrhundert wurde die voll entwickelte Lohnarbeit zum Massenphänomen, vor allem im Westen, doch in Ansätzen auch in anderen Teilen der Welt. Dabei half im Westen die teils revolutionär und durch Krieg (Frankreich, USA, Haiti), meist aber reformerisch durchgesetzte, dann sich meist über Jahrzehnte hinschleppende Abschaffung jener traditionellen Ordnungen, die in der einen oder anderen Weise unfreie Arbeit stabilisiert hatten. Zu nennen sind das Verbot erst des Sklavenhandels (ab 1808) und dann der Sklaverei, die gerichtlich gestützte Illegalisierung (in den USA seit den 1820er Jahren) der «Indentur», jener Knechtschaft auf Zeit, zu der sich Arbeiter vertraglich verpflichteten, um die vorgeschossenen Transportkosten (zum Beispiel für die Reise über den Atlantik) abzuarbeiten, die Bauernbefreiung und die Abschaffung der Leibeigenschaft (zuletzt in Russland seit 1861) sowie die Aufhebung oder Schwächung der Zunftordnungen im Zuge der Durchsetzung der «Gewerbefreiheit». Auf diesem Hintergrund kam es zum meist ganz allmählichen Vordringen der Lohnarbeit Hand in Hand mit der allmählichen Durchsetzung kapitalistischer Prinzipien, und zwar oft durch lange überlebende Mischformen hindurch. Die Einbettung von Lohnarbeit in andere Arbeits- und Sozialverhältnisse war lange eher die Regel als «Lohnarbeit» pur.
Die «Knechtschaft auf Zeit» der «indentured labourers» (Kontraktarbeiter) stellte eine solche Mischform dar; unter ihnen waren die «Kulis» besonders wichtig, aus Asien stammendehalb-freie Arbeiter, die über weite Strecken transportiert wurden, um in den nach 1860 sich erneut ausdehnenden Plantagen (Zucker, Kautschuk, Tabak u.a.) eingesetzt zu werden, meist in tropischen und subtropischen Regionen Asiens,
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