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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Gewerkschaftsgedanke den stärksten Widerhall, bei den am schlimmsten ausgebeuteten und verelendeten Bergarbeitern Mittelenglands und Schottlands zunächst sehr viel weniger. Um die Arbeiter von der Zweckmäßigkeit einer dauerhaften Organisation zu überzeugen, brauchten die frühen Gewerkschaftsführer einen langen Atem.[ 62 ]
    Anders als England war die andere Flügelmacht, Rußland, von den revolutionären Umwälzungen in Frankreich so gut wie unberührt geblieben. Als Alexander I. im März 1801 nach der Ermordung seines Vaters, des Zaren Paul I., durch Angehörige einer Adelsverschwörung den Thron bestieg, galt er als Anhänger konstitutioneller Ideen. Doch soweit er im Hinblick auf das russische Kernreich Verfassungsgedanken erwog, ging es dabei nur um eine wirksamere Organisation der zentralen Verwaltung und eine Modifizierung des russischen Rechts. Eine Abschaffung der Autokratie stand für Alexander nie zur Debatte. Als sein reformfreudiger Staatssekretär Michail Speranskij in der Nachahmung westlicher Vorbilder wie des Code Napoléon und Plänen für den Aufbau eines konstitutionellen Rechtsstaats nach Meinung einflußreicher Adelskreise und der orthodoxen Kirche viel zu weit ging, bewogen diese den Zaren zur Entlassung des Neuerers: Speranskij mußte 1812 in die Verbannung gehen, aus der er 1814 auf sein Landgut in der Provinz Nowgorod zurückkehrte. In eine politische Machtposition in St. Petersburg gelangte er erst wieder, nachdem er sich von 1819 bis 1821 als Gouverneur von Sibirien bewährt hatte.
    Gegenüber den westlichen Randgebieten des Reiches ließ Alexander eine gewisse Liberalität walten. Finnland, das seit 1809 ein autonomes Großfürstentum unter russischer Oberhoheit bildete, erhielt auf dem Landtag von Porvoo im März desselben Jahres eine vertragliche Zusicherung seiner überkommenen Rechte: ein Privileg, dessen Gegenstück ein Treueid der finnischen Stände gegenüber dem neuen Herrn, dem Zaren als Großfürst von Finnland, war. In den baltischen Provinzen Estland, Livland und Kurland behielten die Ritterschaften, die ständischen Vertretungen der adligen deutschen Oberschicht, ebenfalls ihre Privilegien. Nach dem Vorbild Estlands von 1816 wurden 1817 in Kurland und zwei Jahre später in Livland die Leibeigenen befreit. Allerdings erhielten sie kein Land. Sie konnten lediglich auf Zeit ein Stück Land pachten, wozu sie einen Kredit benötigten, was sie in neue Abhängigkeit von den Gutsbesitzern brachte, die über die Ritterschaft das Kreditwesen der Provinz kontrollierten.
    Das größte Entgegenkommen zeigte Alexander gegenüber dem Königreich Polen. Der neuen, vom Zaren beschworenen Verfassung vom November 1815 entsprechend konnten die wahlberechtigten Polen, fast ausnahmslos Adlige, in einem indirekten Wahlverfahren eine Landesvertretung, den Sejm, wählen, der über das Recht der Gesetzgebung, aber nicht das der Gesetzesinitiative verfügte. Die persönliche Freiheit, das Recht auf Eigentum und freie Meinungsäußerung waren gewährleistet. Sämtliche Staatsämter mußten mit Polen besetzt werden. Folgerichtig ernannte der Zar in seiner Eigenschaft als König von Polen einen Polen zu seinem Statthalter in Warschau. Das Königreich Polen besaß sogar eine eigene Armee, die freilich einen russischen Oberbefehlshaber hatte: Alexanders jüngeren Bruder, Großfürst Konstantin.
    Verglichen mit seinem westlich geprägten Vorposten lebte das eigentliche Rußland nach 1815 weiterhin in einer anderen Welt und in einem anderen Zeitalter. Anders als im europäischen Okzident gab es in Rußland keine Gesellschaft, die dem Staat gegenüber eine gewisse Unabhängigkeit besaß. Der grundbesitzende Adel genoß große Privilegien, darunter das der Steuerfreiheit, die Speranskij nur für kurze Zeit außer Kraft zu setzen vermochte. Einen Anteil an der Staatsmacht aber hatte der Adel nicht. Seine Standeskorporationen waren mit der örtlichen Behördenorganisation betraut und auf diese Weise selbst ein weisungsgebundener Teil der Staatsverwaltung. Die meisten Bauern waren entweder Leibeigene der Gutsbesitzer oder persönlich freie Staatsbauern, die Domänenland zwar pachten, aber nicht erwerben konnten. Seit 1810 kamen dazu noch die Bauernsoldaten der Militärsiedlungen, in denen zwecks finanzieller Entlastung des Staates bis Mitte der 1820er Jahre etwa ein Drittel der Armee untergebracht wurde. Die Stadtbewohner waren Untertanen ohne Recht auf kommunale Selbstverwaltung, also keine «Bürger» im

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