Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
bedeutete in Deutschland jedoch etwas anderes als in Frankreich. Unter dem Einfluß von Benjamin Constant hatte der französische Liberalismus rasch gelernt, in der strikten Trennung von Regierungsgewalt und Parlament, wie sie die Charte von 1814 festlegte, nur ein Durchgangsstadium zu einem parlamentarischen System mit voller Ministerverantwortlichkeit zu sehen. Constant wurde auch in Deutschland viel gelesen, aber anders verstanden als in dem Land, in dem er wirkte. Die frühen deutschen Liberalen hielten den Dualismus zwischen Regierung und Parlament für dauerhaft und notwendig. Wer sich in Deutschland dem Liberalismus zurechnete, meinte damit ein Eintreten für Menschen- und Bürgerrechte, obenan die Meinungs-, Presse- und Vereinsfreiheit sowie für das ausschließliche Recht des Parlaments, Steuern zu bewilligen und Gesetze zu verabschieden. Gemessen am französischen Liberalismus der Restaurationszeit, war das ein bescheidenes Programm.[ 61 ]
Vom Mutterland des parlamentarischen Systems konnten die Liberalen des europäischen Festlands während der frühen Restaurationszeit sehr viel weniger lernen als von Frankreich: In England war die politische Freiheit in den ersten Jahren nach 1815 so bedroht wie selten zuvor. Diese Entwicklung hing aufs engste mit dem Ende der napoleonischen Kriege zusammen. Das Ende der Kontinentalsperre stürzte das Land in eine schwere Wirtschaftskrise: Der Staat als Abnehmer kriegswichtiger Güter, darunter Munition, Bekleidungsstücke und Lebensmittel für die Streitkräfte, fiel weitgehend aus; die überhöhten Preise für britisches Getreide brachen ein, als die Einfuhr von ausländischem Getreide wieder aufgenommen wurde; viele hochverschuldete Pächter mußten den Bankrott ihrer landwirtschaftlichen Betriebe anmelden. Doch die Vertreter der «landed interests», die im Ober- wie im Unterhaus das Sagen hatten, wußten sich zu wehren. Sie setzten im März 1815 die Einführung hoher Kornzölle durch, die der britischen Landwirtschaft einen künstlichen Schutz vor der Konkurrenz aus Europa und Übersee verschafften.
Die «Corn Laws» bewirkten ein starkes Ansteigen der Brotpreise und dieses heftige soziale Unruhen. 1816 erlebte Großbritannien eine neue Welle des Maschinensturms und anderer gewaltsamer Aktionen der «Ludditen». Der radikale Reformer William Cobbett nahm das zum Anlaß, bei den Arbeitern in seinem vielgelesenen «Political Register» für den Übergang zu vernünftigen Protestformen zu werben. Der zunehmende Widerhall des Radikalismus ging auch auf den Einfluß von Jeremy Bentham, dem Urheber der Lehre vom «größten Nutzen der größten Zahl», zurück. Der Begründer des philosophischen Utilitarismus forderte in seiner 1809 verfaßten, aber erst 1817 veröffentlichten Schrift «Parliamentary Reform Catechism» jährliche Parlamentswahlen und ein annähernd allgemeines Wahlrecht: ein politisches Programm, das der entstehenden demokratischen Bewegung wichtige Stichworte gab. In derselben Richtung wirkte, sehr viel konsequenter als Bentham, schon seit Jahrzehnten Major John Cartwright, der den Arbeitern die Bedeutung eines Kampfes um die «public opinion» nahezubringen versuchte.
Die proletarischen Unterschichten für politische Reformforderungen zu gewinnen, erwies sich jedoch angesichts der großen sozialen Not als überaus schwierig. Die Hungerunruhen mitsamt Plünderungen von Läden und Angriffen auf öffentliche Gebäude gingen auch im Winter 1816/17 weiter, worauf die konservative Regierung von Lord Liverpool und Lord Castlereagh als Außenminister und Führer der Tories im Unterhaus mit scharfen Beschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, den sogenannten Alarmgesetzen, antwortete; das am tiefsten einschneidende brachte eine befristete Aufhebung der Habeas-Corpus-Akte von 1679.
Die Empörung über die Zwangsmaßnahmen entlud sich im März 1817 in dem «Marsch der Deckenmänner» (blanquettiers), an dem sich Tausende von Arbeitern und Handwerkern aus Manchester und Umgebung, vor allem Weber und Strumpfwirker, beteiligten. Die Organisatoren stammten aus radikalen, gewerkschaftsähnlichen Vereinigungen wie den «Hampden Clubs» und den «Political Unions». Zweck des Marsches war ein geballter Protest gegen das soziale Elend und die politische Einflußlosigkeit der Arbeiter bei der Regierung in London; bei einigen Initiatoren spielten wohl auch Hoffnungen auf die Auslösung einer Revolution im Stil von 1789 eine Rolle. Das Ziel, die britische Hauptstadt,
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