Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
westlichen Sinn.
Mochte Alexander I. die Leibeigenschaft auch für ein Übel halten, so konnte er doch nicht ernsthaft an ihre Aufhebung denken. Ein solcher Eingriff in die Gesellschaftsordnung hätte den Staat aufs schwerste erschüttert, wie umgekehrt die russische Sozialverfassung durch eine grundlegende Änderung des Staatsaufbaus radikal in Frage gestellt worden wäre. Was immer der Zar zu manchen Zeiten an Sympathien für konstitutionelle Traditionen oder Bestrebungen zeigte: Er blieb ein Gefangener der Autokratie, die er verkörperte. Eben deswegen war er nach 1815 der zuverlässigste Verbündete der europäischen Mächte, die entschlossen waren, revolutionären Bewegungen, wo immer sie auftraten, mit aller Härte entgegenzutreten.
Vergleichsweise erfolgreich war Alexander, solange Speranskij über Einfluß verfügte, auf dem Gebiet der Bildungsreform: Zu den drei bereits bestehenden Universitäten, einer russischsprachigen in Moskau, einer polnischsprachigen in Wilna und einer deutschsprachigen im livländischen Dorpat, dem heutigen Tartu in Estland, kamen sechs neue, unter anderem in Charkow, Kazan und St. Petersburg. Die Universitäten richteten sich an westeuropäischen Vorbildern aus und genossen ein beträchtliches Maß an Autonomie. Ihnen oblag die Aufsicht über die Gymnasien, von denen in der Regierungszeit Alexanders I. etwa vierzig neu gegründet wurden. Die Kosten für Hochschulen und Gymnasien trug das 1803 ins Leben gerufene Ministerium für Volksaufklärung. Dagegen sollten die Grund-, Kreis- und Pfarrschulen aus lokalen Steuern und kirchlichen Mitteln finanziert werden, was zur Folge hatte, daß dieser für die Masse der Bevölkerung wichtigste Zweig des Schulwesens vernachlässigt wurde. Die Erneuerung von höheren Schulen und Universitäten sollte nach den Vorstellungen Speranskijs dem Staat zu einer qualifizierten Beamtenschaft verhelfen, die sich durch überprüfte Leistungen und nicht mehr wie bisher durch adlige Herkunft auszeichnete: ein Vorhaben, dem der Adel hartnäckigen und teilweise erfolgreichen Widerstand entgegensetzte.
Nach dem Wiener Kongreß wurde Alexanders Politik immer reaktionärer und repressiver. 1818 erging ein allgemeines Verbot von Diskussionen über politische und soziale Probleme und namentlich von Fragen der Verfassung und der Bauernbefreiung. Zu den Opfern der ebenso umfassenden wie scharfen Zensur gehörte der Dichter Alexander Puschkin. 1820 wurde er wegen einiger kämpferischer Gedichte gegen Staatsallmacht und Leibeigenschaft in den Kaukasus verbannt, aus dem er erst 1827 nach St. Petersburg zurückkehren konnte.
Am 1. Dezember 1825 starb gänzlich unerwartet, kurz vor seinem 48. Geburtstag, Zar Alexander I. Sein Tod löste den «Dekabristenaufstand» aus (Dezember heißt auf russisch «dekabr»). In den Jahren zuvor hatten sich junge Offiziere, die in den Kriegen der Jahre 1813 bis 1815 mit westlichen Ideen in Berührung gekommen waren, in mehreren Geheimgesellschaften zusammengeschlossen. Ihr Ziel war eine gründliche Erneuerung Rußlands im Geist von 1789, wobei es der gemäßigten St. Petersburger Richtung vor allem um eine konstitutionelle Monarchie, Autonomie der Provinzen, gesicherte Freiheitsrechte und eine Aufhebung der Leibeigenschaft ging, während radikalere Kräfte im Süden Rußlands eine Republik erstrebten, in der die nichtrussischen Völker sich dem Willen Rußlands zu unterwerfen hatten; nur Polen sollte eine bedingte Unabhängigkeit zugestanden werden.
Die Geheimpolizei war der Verschwörung bereits auf die Spur gekommen, als die Dekabristen im Dezember losschlugen. Durch die Besetzung des Senatsplatzes in St. Petersburg wollten sie verhindern, daß die Behörden, wie vorgesehen, den Amtseid auf Alexanders Nachfolger, seinen Bruder Nikolaus I., leisteten, und die Einberufung einer Konstituante erzwingen. Der Aufstand, an dem 30 Offiziere und etwa 3000 Soldaten beteiligt waren, wurde innerhalb weniger Stunden niedergeschlagen; einige Tage später erlitten die Mitverschwörer, die sich im ukrainischen Tschernikow erhoben, dasselbe Schicksal. Es folgte ein Prozeß gegen 121 Dekabristen. An fünf von ihnen wurde das Todesurteil vollstreckt; mehr als hundert mußten nach Sibirien in die Verbannung gehen.
Der neue Zar, der dreißig Jahre lang regierte, war, anders als Alexander, frei von gelegentlichen liberalen Anwandlungen. Die Zensur erreichte unter Nikolaus I. ein absurdes Ausmaß: Sie traf nicht nur lebende Autoren, sondern auch antike
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