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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Positionen war er noch immer weit entfernt. Eine koloniale Zweiklassengesellschaft, ähnlich dem hundert Jahre später entwickelten System der «Apartheid» in Südafrika: Das war alles, was sich Tocqueville mit Blick auf die Zukunft Algeriens vorstellen konnte.
    Im Bericht an die Kammer rief Tocqueville die Franzosen auf, sich in Algerien kein Beispiel an der Eroberung Amerikas zu nehmen. Dergleichen wäre mitten im 19. Jahrhundert noch weniger entschuldbar als drei Jahrhunderte zuvor. Denn die heutigen Franzosen waren, wie er meinte, weniger fanatisch als die spanischen Konquistadoren, und besser als diese kannten sie die «Grundsätze und die aufgeklärten Einsichten, die die Französische Revolution in der Welt verbreitet hatte» (les principes et les lumières que la Révolution française à répandus dans le monde). Doch auch mit der Idee unveräußerlicher Menschenrechte, der großen Errungenschaft der Revolutionen von 1776 und 1789, war die Rechtfertigung der französischen Kolonialherrschaft in Algerien ganz und gar unvereinbar. Falls Tocqueville später noch zu dieser Erkenntnis gelangt sein sollte, hat er sie für sich behalten: Zum Thema Algerien gibt es nach 1847 keine Äußerung mehr von ihm.[ 86 ]
    Folgenlos blieb der von Tocqueville verfaßte Kommissionsbericht nicht: Er trug mit dazu bei, daß Bugeaud, der die Eroberung von Algerien durch die Gründung neuer Militärkolonien immer weiter treiben wollte, als Generalgouverneur von König Louis Philippe entlassen wurde. Die positiven innenpolitischen Rückwirkungen, die sich Tocqueville von einer erfolgreichen Kolonialpolitik in Nordafrika versprochen hatte, traten aber auch nach der Kapitulation von Abd el-Kader am 23. Dezember 1847 nicht ein. Nach Lage der Dinge konnte es auch kaum anders sein. Denn Frankreich befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer tiefen Krise.
    Begonnen hatte die Krise mit der europäischen Mißernte von 1846, wenn nicht schon mit der Kartoffelkrankheit von 1845. Verschärfend kam die von England ausgehende internationale Kreditkrise, eine Folge vor allem von Überspekulation im Eisenbahnbau, hinzu. Die französische Industrie, auf Grund traditionell hoher Schutzzölle weitaus weniger dynamisch und reaktionsfähig als die preußische, mußte auf Grund der Kreditknappheit und sinkenden Absatzes Arbeitskräfte in großer Zahl entlassen und die Löhne senken. Daraus erwuchs eine soziale Krise, besonders spürbar in den Zentren des Steinkohlebergbaus und der Stahlindustrie, der Metall-, der Baumwoll- und der Seidenindustrie. Radikale Kritiker des Kapitalismus fanden mit ihrer Agitation mehr Gehör als je zuvor; Arbeiter, Handwerker, Kleinbürger und Intellektuelle begannen, ihre politischen Gemeinsamkeiten zu entdecken, und es gehörte wenig Phantasie dazu, um sich Ende 1847 eine revolutionäre Entladung der allgemeinen Unruhe vorstellen zu können.
    Bei den Wahlen vom Sommer 1846 hatte die Regierung unter der nominellen Leitung des Marschalls Soult, der faktischen von Guizot, einen glänzenden Sieg errungen: Ihre Anhänger erlangten 291, die orleanistische Linke unter Odilon Barrot etwa 100 Mandate; die Legitimisten, die dem Haus Bourbon die Treue hielten, kamen auf 16, das linke Zentrum unter Adolphe Thiers und die äußerste bürgerliche Linke unter Alexandre Ledru-Rollin auf ein rundes Dutzend Mandate. Keiner Gruppe fest zuzuordnen waren unabhängige Liberale wie Tocqueville und Lamartine.
    Im September 1847 übernahm Guizot auch formell das Amt des Ministerpräsidenten. Um diese Zeit hatten die Kritiker des «juste milieu» bereits begonnen, auf politischen Banketten Front gegen das extrem besitzfreundliche Zensuswahlrecht zu machen, das eine tiefe Kluft zwischen dem «pays legal» und dem «pays réel» hatte entstehen lassen. Die Forderung nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht wurde rasch zum gemeinsamen Nenner des linken Flügels der zersplitterten Opposition. Zu seinen beredtesten Wortführern gehörten der bürgerliche Radikale Ledru-Rollin und der Sozialist Louis Blanc.
    In der zweiten Hälfte des Jahres 1847 gab es in ganz Frankreich rund 70 Bankette, auf denen die Reform des Wahlrechts gefordert wurde. Anfang 1848 griff die Bewegung auf die Hauptstadt über. Ein für den 19. Januar geplantes Bankett, an dem sich die Nationalgarde des 12. Arrondissements beteiligen wollte, wurde vom Polizeipräsidenten verboten und daraufhin nach Verlesung einer Adresse an die Kammer auf den 22. Februar verschoben, was die anwesenden

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