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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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bemerkenswertem Gleichmut, fast als Vollzug eines Naturgesetzes, beschrieben. Die weißen Amerikaner waren aus seiner Sicht den Ureinwohnern wie auch den aus Afrika eingeführten schwarzen Sklaven kulturell ähnlich überlegen wie die Franzosen den Arabern des Maghreb. Aus der vermeintlichen kulturellen Überlegenheit ergab sich für ihn das Recht auf Eroberung und Kolonisation.
    Tocqueville hatte zudem auf seiner Reise durch die Vereinigten Staaten Gelegenheit gehabt, die inspirierende Wirkung einer großen Vision kennenzulernen. Im Fall Amerikas war das der Traum von der Erschließung und Durchdringung eines riesigen, nur dünn besiedelten Raumes, der sich von den Appalachen bis zum Pazifik erstreckte. Für Frankreich bedeutete, so sahen es Tocqueville und manche seiner Zeitgenossen, Algerien das Tor zu Afrika. Die inneren Zerklüftungen der französischen Gesellschaft mit Hilfe eines großen, gemeinsamen, nationalen Vorhabens jenseits der allzu engen, bisherigen Grenzen zu überwinden: Was die Nordamerikaner auf ihrem Kontinent erreicht hatten und die Briten mit beträchtlichem Erfolg in Indien taten, das mußte auch den Franzosen auf der anderen Seite des Mittelmeers möglich sein. Das jedenfalls war die Hoffnung, von der sich Tocqueville zu Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts leiten ließ.
    Was ihn hingegen zunehmend mit Sorgen erfüllte, war die Praxis der französischen Politik in Algerien: über der militärischen Eroberung kam die nachhaltige Kolonisation zu kurz. Anders als der romantische Dichter und liberale Parlamentarier Alphonse de Lamartine verurteilte Tocqueville auch in der großen Algeriendebatte der Deputiertenkammer vom Juni 1846 nicht die unbeschreibliche Grausamkeit, mit der französische Soldaten auf Befehl des Generalgouverneurs Bugeaud gegen die arabische Zivilbevölkerung vorgingen; er beschränkte sich vielmehr darauf, der massenhaften Vertreibung und Ausrottung der einheimischen Bevölkerung eine Absage zu erteilen. Aber von einer zweiten Algerienreise, die er im Herbst 1846 als Mitglied einer vierköpfigen Delegation der Deputiertenkammer unternahm, kam er ernüchtert zurück. Als Berichterstatter der zuständigen Kommission unterzog Tocqueville im Frühjahr 1847 die Militärverwaltung einer scharfen Kritik, wozu auch die Feststellung gehörte, daß die Armee weder die bürgerlichen Freiheiten noch die Eigentumsrechte respektierte.
    Diese Bemerkung bezog sich allerdings nicht auf die einheimischen Muslime, sondern auf die französischen Siedler. Den Eingeborenen (indigènes) gestand Tocqueville ebenfalls bestimmte, der eigenen Überlieferung entsprechende Rechte zu, was eine zeitweilige Duldung des Besitzes von Sklaven einschloß. «Die muslimische Gesellschaft in Afrika war zwar nicht unzivilisiert (incivilisée), sie war lediglich rückständig und unvollkommen (arriérée et imparfaite) … Wir haben sie noch elender, unbeherrschter, unwissender und barbarischer gemacht, als sie war, bevor sie uns kennenlernte … Das private Eigentum, die Industrie, die Seßhaftigkeit stehen nicht im Gegensatz zur Religion Mohammeds … Der islamische Glaube ist der Vernunft nicht völlig unzugänglich (L’islamisme n’est pas absolument impénétrable à la lumière); er hat des öfteren in seinem Schoß gewisse Wissenschaften und Künste heranwachsen lassen. Warum sollten wir sie nicht unter unserer Herrschaft erblühen lassen? Zwingen wir die Eingeborenen nicht, unsere Schulen zu besuchen, helfen wir ihnen lieber, die eigenen wiederherzustellen, die Zahl der Lehrer zu vermehren, Rechts- und Schriftgelehrte auszubilden, auf die die muslimische Gesellschaft ebensowenig verzichten kann wie die unsere.»
    Was Tocqueville vortrug, war ein Plädoyer für eine aufgeklärte Kolonialherrschaft, die im wohlverstandenen Interesse beider Seiten von der höherentwickelten Macht über die nur halbzivilisierte einheimische Bevölkerung ausgeübt wurde. Die letztere war nicht rechtlos, hatte aber andere, mindere Rechte als die Europäer. Die Kolonialmacht schuldete den Eingeborenen eine gute Regierung (bon gouvernement) und hatte ihnen zu helfen, von einer unvollkommenen zu einer höheren Zivilisation fortzuschreiten. Tocqueville wandte sich damit zwar gegen die Vorstellung von einer unaufhebbaren Ungleichheit der Menschenrassen, wie sie einige Jahre später sein zeitweiliger Sekretär, Joseph Arthur Comte de Gobineau, vertreten sollte. Aber von einer grundsätzlichen Revision seiner 1841 bezogenen

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