Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Strafaktionen stand stets die «Razzia» (ein arabisches Wort, das nach 1840 in die westlichen Sprachen einwanderte): Verdächtige Menschengruppen, darunter auch Frauen und Kinder, wurden von den französischen Streitkräften umzingelt und zusammengepfercht, so daß es für sie kein Entkommen mehr gab. Besonders hartnäckige Rebellenverbände ließ Bugeaud in Höhlen einsperren und durch Ausräuchern töten. Ihre Frauen und Kinder wurden ins schneebedeckte Atlasgebirge getrieben, wo sie in großer Zahl verhungerten, verdursteten und erfroren.
Zu den entschiedensten Verteidigern des französischen Kolonialkrieges gehörte Alexis de Tocqueville, der 1839 als gemäßigter Liberaler in die Deputiertenkammer gewählt und zwei Jahre später in die Académie française aufgenommen worden war. Im Oktober 1841 legte er nach seiner ersten mehrwöchigen Reise durch Algerien die eigenen Beobachtungen und Schlußfolgerungen in einem (erst nach seinem Tod veröffentlichten) Manuskript nieder. Auf Algerien zu verzichten hieße für Frankreich, der Welt seinen sicheren Niedergang anzuzeigen: Das war der Ausgangspunkt von Tocquevilles «Gedanken über Algerien». Weil die Franzosen sich nach seiner Überzeugung eine solche Politik nach den demütigenden Erfahrungen von 1840 weniger denn je leisten konnten, mußten sie die Eroberung von Algerien konsequent fortsetzen. Darum widersprach Tocqueville den achtbaren Menschen, die da meinten, «es sei schlecht, daß man Ernten niederbrenne, Speicher ausräume und letztlich sogar Unbewaffnete, Frauen und Kinder in Gewahrsam nehme. Ich halte das für leidige Notwendigkeiten (nécessités fâcheuses), denen sich jedes Volk, das gegen Araber Krieg führen will, beugen muß … Inwiefern ist es denn schändlicher, Felder niederzubrennen und Frauen und Kinder gefangenzunehmen, als die unschuldige Bevölkerung einer belagerten Stadt zu bombardieren oder Handelsschiffe, die unter der Flagge einer feindlichen Macht fahren, auf hoher See aufzubringen?»
Den Offizieren, die in Algerien ihre Pflicht taten, zollte Tocqueville militärischen Respekt. Zugleich flößten sie ihm jedoch Furcht ein. Denn die Denk- und Handlungsweisen, an die sie sich in Afrika gewöhnten, waren nach seiner Meinung überall sonst und besonders in freien Ländern gefährlich. Ein Offizier, der sich in Afrika erst einmal eingerichtet habe, werde dort einen «harten, gewaltsamen, willkürlichen und groben Führungsstil» entwickeln. In Afrika bildeten sich Männer heraus, die in der öffentlichen Wahrnehmung übermäßige Aufmerksamkeit genössen, «weil sie inmitten der Lethargie handeln und einen kämpferischen Ruf bei einem Volk erwerben, das den Krieg liebt und keinen Anteil an ihm hat. Ich fürchte, sie könnten eines Tages den auswärts und oft plötzlich gewonnenen Einfluß auf die öffentliche Meinung benutzen, um in unsere inneren Angelegenheiten einzugreifen. Gott bewahre uns davor, jemals erleben zu müssen, daß Frankreich von einem Offizier der Afrika-Armee gelenkt wird.»
Solche nüchternen Einsichten hielten Tocqueville aber nicht davon ab, im militärischen Erfolg der Afrika-Armee in Algerien ein Unterpfand der künftigen Größe Frankreichs zu sehen. In Algerien galt es zu beweisen, «daß wir Afrika besiedeln können». Deshalb mußte das eroberte Umland von Algier von französischen Einwanderern landwirtschaftlich genutzt und die Kolonisierung durch französische Herrschaft dauerhaft gesichert werden. Der Boden war Arabern abzukaufen, wenn möglich in gegenseitigem Einvernehmen, wenn nötig auch zwangsweise. Der Gedanke an eine Verschmelzung der neuen christlichen und der einheimischen, muslimischen, nur halbseßhaften Bevölkerung sei «ein Hirngespinst, das man sich erträumt, wenn man nicht im Lande selbst gewesen ist. Es kann und muß also in Afrika zwei sehr verschiedene Gesetzgebungen geben, weil dort zwei streng geschiedene Gesellschaften bestehen. Sofern es um die Europäer geht, hält uns also absolut nichts davon ab, sie so zu behandeln, als ob sie allein wären, weil die für sie aufgestellten Regeln immer nur für sie gelten müssen.»
Die «Gedanken über Algerien» widersprachen auf den ersten Blick dem Freiheitspathos der «Demokratie in Amerika», deren zweiter Teil 1840 erschienen war. Doch der Liberale Tocqueville hatte bereits in dem Werk, das ihn berühmt machte, die fortschreitende Verdrängung, ja Ausrottung der nordamerikanischen Indianer durch Siedler europäischen Ursprungs mit
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