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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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der beredte Fürsprecher einer «Organisation der Arbeit» durch den Staat, in die Regierung aufgenommen wurden. Das geschah in der Form, daß die drei zu «Sekretären» des Revolutionskabinetts gemacht wurden. Die Provisorische Regierung bekannte sich in einer ersten Proklamation zur Republik, wollte die endgültige Entscheidung über den Wechsel der Staatsform aber dem Volk überlassen.
    Unter den ersten Maßnahmen der neuen, revolutionären Exekutive waren die Verkündung des Rechts auf Arbeit und die Einrichtung von Nationalwerkstätten, die für öffentliche Notstandsarbeiten zu sorgen hatten, koordiniert durch eine von Louis Blanc geleitete Kommission im Palais du Luxembourg, am 28. Februar. Es folgte am 4. März die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung sollten am 9. April stattfinden. Den Radikalen, die auf einen sehr viel späteren Termin drängten, kam die Provisorische Regierung nur insoweit entgegen, als sie sich auf einen Aufschub um zwei Wochen einließ.
    Die Akteure vom Frühjahr 1848 sahen sich ganz in der Tradition von 1789: Während die gemäßigten Kräfte an das Erbe der Girondisten anknüpften, beschworen die radikaleren das Vorbild der Montagnards. Dies sei eine Zeit, schrieb Tocqueville einige Jahre später in seinen Memoiren, «in der die Vorstellungen aller mit den groben Farben angestrichen waren, mit denen Lamartine sein Gemälde der ‹Girondins› gemalt hatte. Die Männer der ersten Revolution lebten noch im Geiste aller, ihre Taten und ihre Worte waren in der Erinnerung aller gegenwärtig. Alles, was ich an diesem Tage (dem 24. Februar 1848, H.A.W.) erlebte, trug den sichtbaren Stempel dieser Erinnerung; es schien mir immer so, daß man mehr damit beschäftigt war, die Französische Revolution zu spielen, als sie fortzusetzen.»
    Die Vorgeschichte und der Beginn beider Revolutionen wiesen in der Tat manche Ähnlichkeiten auf: die verbreitete Krisenstimmung, die zunehmende Isolierung der Regierenden, die maßgebliche Rolle von Intellektuellen. Aber die Unterschiede fielen nicht minder ins Auge. 1789 war auch eine Revolution des ländlichen Frankreich gewesen; im Februar 1848 brachte die Hauptstadt und nur sie den Umsturz zuwege; die Bauernunruhen vom Frühjahr 1848 in einigen wirtschaftlich besonders rückständigen Departements in den Pyrenäen, den Alpen und dem Zentralmassiv sowie im Elsaß (wo es, ähnlich wie im benachbarten Baden, zu judenfeindlichen Ausschreitungen kam) blieben regionale Ereignisse. Ein anderer Unterschied ergab sich aus der Erfahrung der Folgen von 1789. Die große Mehrheit der Franzosen wollte 1848 kein neues 1793, diesmal im Namen des Proletariats, keine terroristische Diktatur, wie sie dem extremsten unter den Sozialisten und Kommunisten, Auguste Blanqui, vorschwebte. Worauf es den allermeisten ankam, war die Behebung der Mißstände, die sich unter der Julimonarchie entwickelt hatten, aber nicht die Schaffung einer neuen Gesellschaft.
    Eben darum lag der Vergleich mit der Julirevolution von 1830 näher als der mit der «großen» Revolution von 1789. 1830 und 1848 ging es um einen politischen Regimewechsel, verbunden mit gesellschaftlichen Machtverschiebungen, aber nicht wie 1789 um die Ablösung der alten durch eine neue Ordnung. In beiden «Folgerevolutionen» wurde die Niederlage der bisher Herrschenden vor allem durch die Pariser Arbeiter herbeigeführt. Marx hat das in seiner 1850 verfaßten Schrift «Die Klassenkämpfe in Frankreich von 1848 bis 1850» wie folgt ausgedrückt: «Wie die Arbeiter in den Julitagen die bürgerliche Monarchie , hatten sie in den Februartagen die bürgerliche Republik erkämpft. Wie die Julimonarchie gezwungen war, sich anzukündigen als eine Monarchie , umgeben von republikanischen Institutionen , so die Februarrepublik als eine Republik, umgeben von sozialen Institutionen . Das Pariser Proletariat erzwang auch diese Konzession.»
    Die wichtigste der «sozialen Institutionen» war die Arbeiterkommission im Palais du Luxembourg unter Louis Blanc. Sie war nicht nur räumlich von der Provisorischen Regierung unter Ledru-Rollin getrennt, sie betrieb auch eine andere Politik. Frankreich befand sich also unmittelbar nach dem Übergang von der Monarchie zur Republik in einem Zustand der Doppelherrschaft. Er trug den Keim des Konflikts, der ungeklärten Machtfrage, in sich, konnte also nicht von Dauer sein. «Bürgerliche» und «proletarische» Interessen mußten

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