Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
und erließ, entgegen den Empfehlungen seiner konservativen Berater, eine Verfassung, die sich weitgehend an die Vorlage der Verfassungskommission der Nationalversammlung, die sogenannte «Charte Waldeck», anlehnte und sogar im Hinblick auf die Wahlen zur zweiten Kammer, das Haus der Abgeordneten, das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer beibehielt. Der wichtigste Unterschied zum parlamentarischen Verfassungsentwurf bestand darin, daß sich der König ein absolutes Veto gegen Gesetzesbeschlüsse der beiden Kammern, des Herrenhauses und des Abgeordnetenhauses, sicherte (die «Charte Waldeck» gestand dem Monarchen nur ein suspensives Veto zu). Am folgenden Tag, dem 6. Dezember, ordnete die Regierung Brandenburg Wahlen für die beiden Kammern für Januar 1849 an. Hauptaufgabe des neuen Parlaments sollte die Revision der oktroyierten Verfassung sein.
Mit seinem Staatsstreich, der manche Züge einer «Revolution von oben» trug, zog Friedrich Wilhelm IV. einen vorläufigen Schlußstrich unter die preußische Märzrevolution. Die Macht des alten Staates hatte über das neue, aus der Revolution hervorgegangene Recht obsiegt. Es war ein leicht errungener Sieg. Denn große Teile der Bevölkerung in Stadt und Land sahen in der Festigung der königlichen Macht ein angemessenes Mittel gegen politischen und sozialen Radikalismus. Der revolutionäre Aufruf zur Steuerverweigerung wurde kaum befolgt. Die meisten gemäßigten Liberalen waren geradezu erleichtert. Der rheinische Unternehmer Gustav von Mevissen, der als Abgeordneter der Paulskirche der Fraktion des «Casinos» angehörte, sprach in einem Brief vom 8. Dezember in offenkundiger Anspielung auf Gagerns Wort vom 24. Juni von einem «kühnen Griff des Königs». Er hielt den Augenblick für gekommen, wo einflußreiche und mutige Männer sich auf den «neugeschaffenen Rechtsboden stellen und die hereindräuende Anarchie bekämpfen» müßten. Der Historiker Dahlmann, ein Fraktionskollege Mevissens, prägte in einer Rede vor der deutschen Nationalversammlung am 15. Dezember mit Blick auf das Vorgehen des preußischen Königs das Wort vom «Recht der rettenden Tat». Er verband damit eine weitgehende Forderung: Auch die künftige deutsche Verfassung müsse dem Staatsoberhaupt ein absolutes und nicht nur ein aufschiebendes Veto gegen Parlamentsbeschlüsse einräumen.
Mochte die preußische Verfassung auch oktroyiert sein, so war der Hohenzollernstaat doch seit dem 5. Dezember 1848 wenigstens ein Verfassungsstaat: So sahen es, ob sie es offen aussprachen oder nicht, die gemäßigten Liberalen der deutschen Nationalversammlung. Sie knüpften daran die Erwartung, daß sich das Verhältnis zwischen dem Frankfurter und dem Berliner Parlament nach den preußischen Wahlen im Januar 1849 bessern würde. In der anderen deutschen Großmacht hatte sich mit der Gegenrevolution auch der habsburgische Gesamtstaat durchgesetzt: ein Gebilde, das dem Vorhaben der Paulskirche, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen, unübersehbar im Wege stand. Falls es im November noch Zweifel gegeben hatte, ob Fürst Schwarzenberg sich an der Macht würde behaupten können, wurden sie im folgenden Monat ausgeräumt. Auf massives Drängen des Ministerpräsidenten verzichtete am 2. Dezember 1848 der herrschaftsunfähige Kaiser Ferdinand zugunsten seines achtzehnjährigen Neffen Franz Joseph auf den Thron. Der junge Herrscher sollte dem habsburgischen Vielvölkerreich ein neues Gesicht geben. Daß es ein Deutschland zugewandtes Gesicht sein würde, stand nicht zu erwarten.
Wenige Tage vor dem Sieg der österreichischen Gegenrevolution, am 27. Oktober 1848, hatte die deutsche Nationalversammlung die Bedingungen für die sogenannte «großdeutsche» Lösung, eine Nationalstaatsgründung unter Einschluß Österreichs, markiert. Mit großer Mehrheit stimmte das Plenum dem Textentwurf des Verfassungsausschusses für die ersten Artikel der Reichsverfassung zu. Nach Artikel 1 bestand das Deutsche Reich, dieser Name war nicht umstritten, aus dem Gebiet des bisherigen Deutschen Bundes. Die Verhältnisse des Herzogtums Schleswig und die Grenzbestimmungen im Großherzogtum Posen sollten der «definitiven Anordnung» vorbehalten bleiben. Artikel 2 legte fest, daß kein Teil des Deutschen Reiches mit nichtdeutschen Ländern zu einem Staat vereinigt sein durfte. Für den Fall, daß ein deutsches Land mit einem nichtdeutschen Land dasselbe Staatsoberhaupt hatte, legte Artikel 3 fest, daß das Verhältnis zwischen
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