Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Nationalversammlung. Die meisten Großdeutschen, politisch vielfach in sich gespalten, wollten sich noch immer nicht mit der Trennung von Österreich abfinden. Uneins war aber auch das kleindeutsche Lager: Anhänger eines Wahlkaisertums standen Fürsprechern eines Erbkaisertums der Hohenzollern gegenüber. Gagern konnte also keineswegs sicher sein, daß er durch verfassungspolitische Zugeständnisse die gemäßigte Linke für sein Programm, die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaats unter einem preußischen Erbkaiser, würde gewinnen können.
Zum Helfer in der Not wurde wider Willen Schwarzenberg. Auf sein Betreiben hin löste Kaiser Franz Joseph am 7. März 1849 den Kremsierer Reichstag auf und oktroyierte eine Verfassung, die die staatsrechtliche Einheit des gesamten Habsburgerreiches einschließlich der ungarischen Reichshälfte festlegte. Zwei Tage danach forderte der österreichische Ministerpräsident vom Reichsministerium in ultimativer Form die Aufnahme des habsburgischen Gesamtstaates in einen neu zu schaffenden deutschen Staatenverband, die Bildung einer deutschen Zentralgewalt in Form eines Direktoriums, wobei Österreich und Preußen eine beherrschende Stellung zufallen sollte, sowie ein Staatenhaus aus Vertretern der Parlamente der Mitgliedstaaten. Soweit es nach Schwarzenberg ging, sollten dort die Abgeordneten aus Österreich über die Mehrheit der Sitze verfügen.
Die unmittelbare Folge des österreichischen Ultimatums war die Spaltung des großdeutschen Lagers. Einer seiner bisherigen Wortführer, Carl Theodor Welcker aus Baden, wechselte zur «Partei» der Kleindeutschen und Erbkaiserlichen über und gab damit anderen das Signal, sich ihm anzuschließen. Gagern und einigen seiner politischen Freunde gelang es kurz darauf, die gemäßigten Demokraten um den Breslauer Abgeordneten Heinrich Simon für einen Kompromiß zu gewinnen: Die Liberalen erfüllten die Forderung der Demokraten nach einem bloß aufschiebenden Veto des künftigen Staatsoberhaupts und dem allgemeinen gleichen Wahlrecht, die Demokraten stimmten dafür am 27. März im Plenum für eine abgeschwächte Form des Textes, den der Verfassungsausschuß für die ersten Artikel der Reichsverfassung vorgeschlagen hatte. Danach mußten deutsche Länder, die mit einem nichtdeutschen Land ein gemeinsames Oberhaupt hatten, eine von dem nichtdeutschen Land getrennte Verfassung, Regierung und Verwaltung haben. Daß Wien diesen Bestimmungen nicht zustimmen würde, stand von vornherein fest. Der Beschluß der deutschen Nationalversammlung war infolgedessen ein verschlüsseltes Votum für die Schaffung eines deutschen Nationalstaates ohne Österreich.
Der Entscheidung vom 27. März 1849 waren leidenschaftliche Debatten vorausgegangen, in denen Abgeordnete der unterschiedlichsten Richtungen für den Fall, daß es zum Bruch mit Österreich kam, vor der Gefahr eines Bürgerkrieges warnten. Der Stuttgarter Abgeordnete Moritz von Mohl, ein gemäßigter Demokrat, hielt sogar einen neuen dreißigjährigen Krieg, einen «Kampf zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands, zwischen Protestantismus und Katholizismus, einen Kampf des herrschenden Volkstums mit den übrigen Volksstämmen» für wahrscheinlich. Die äußerste Linke wollte zwar nicht diesen , aber doch einen anderen Krieg. Ihr Sprecher Karl Vogt, ein Befürworter einer Föderation zwischen dem ganzen deutschen Reich und dem ganzen Österreich, hielt am 17. März den Zeitpunkt für gekommen, zusammen mit Polen und Ungarn den Entscheidungskampf zwischen Ost und West auszufechten. «Meine Herren, dieser heilige Krieg der Kultur des Westens gegen die Barbarei des Ostens, den dürfen Sie nicht herabwürdigen und vergiften durch ein Duell zwischen dem Hause Habsburg und dem Hause Hohenzollern … Nein, meine Herren, Sie müssen entschlossen sein, diesen Krieg sein zu lassen, was er sein soll, ein Kampf der Völker.»
Die Paulskirche ließ sich weder vom Aufruf zum «heiligen Krieg» noch von den Warnungen vor dem Bürgerkrieg beeindrucken. Mit knappen Mehrheiten stimmte das Plenum am 27. März der Übertragung der Würde des Staatsoberhaupts an einen regierenden deutschen Fürsten und der Erblichkeit der Kaiserwürde zu. Tags darauf wurde König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen zum «Kaiser der Deutschen» gewählt. Von den anwesenden 538 Abgeordneten stimmten 290 für ihn; 248 enthielten sich der Stimme. Noch am gleichen Tag setzte Präsident Simson die Reichsverfassung durch Ausfertigung
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