Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
die mitteleuropäische Gegenrevolution nicht nur in Österreich, sondern auch in Preußen gesiegt. Im Hohenzollernstaat wurden, ähnlich wie im Habsburgerreich, die Weichen für die antirevolutionäre Wendung im September gestellt. Den Anstoß hierzu gab der Sturz der im Juni gebildeten Regierung unter dem bisherigen ostpreußischen Oberpräsidenten Rudolf von Auerswald durch die preußische Nationalversammlung am 8. September. Vorausgegangen war ein Konflikt um den Nichtvollzug eines Parlamentsbeschlusses vom 8. August, der die Regierung darauf festlegte, reaktionären Bestrebungen im Offizierskorps energisch entgegenzutreten. Friedrich Wilhelm IV. entschloß sich daraufhin, den Kampf gegen die Revolution aufzunehmen, und legte seine entsprechenden Absichten am 11. September in einem ausgefeilten Kampfprogramm nieder. Mit Rücksicht auf die politischen Kräfteverhältnisse und die öffentliche Meinung mußte er sich jedoch vorerst auf die Bildung eines Beamtenkabinetts unter dem politisch moderaten General Ernst von Pfuel, einem Jugendfreund Heinrich von Kleists, beschränken, der auch das Amt des Kriegsministers wahrnahm. Der König konnte nicht einmal verhindern, daß die neue Regierung, anders als ihre Vorgängerin, den Beschluß der Nationalversammlung in die Form eines Erlasses zur Bekämpfung reaktionärer Umtriebe im Militär brachte.
Wenig später spitzte sich der innerpreußische Machtkampf weiter zu. Am 12. Oktober beschloß die preußische Nationalversammlung bei der Beratung des Verfassungsentwurfs, die Worte «von Gottes Gnaden» aus dem Königstitel zu streichen. Forderte das Parlament damit den König auf eine bislang beispiellose Weise heraus, so rief es am folgenden Tag mit einem anderen Beschluß die Empörung der äußersten Linken hervor: Das Gesetz über die Bürgerwehr verstaatlichte in gewisser Weise die im Frühjahr entstandenen Milizen, um diese dem Zugriff der Radikalen zu entziehen. Die Folge waren Straßen und Barrikadenkämpfe in Berlin am 16. Oktober. Die Bürgerwehr konnte zwar rasch die Ordnung wiederherstellen, doch der König verlangte nun etwas, wofür der neue Ministerpräsident die Verantwortung zu übernehmen nicht bereit war: die Verhängung des Ausnahmezustands. Am 28. Oktober trat Pfuel von seinen Regierungsämtern zurück.
Drei Tage später kam es in Berlin zu neuen Tumulten, ausgelöst durch den Beschluß der Nationalversammlung, einem Antrag Waldecks nicht zuzustimmen, der ein Eingreifen Preußens auf der Seite der Wiener Revolutionäre forderte. Am 1. November wurde bekannt, wen der König mit der Nachfolge Pfuels beauftragt hatte: Es war der konservative Graf Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Die preußische Nationalversammlung sprach ihm am folgenden Tag das Mißtrauen aus. Sie konnte den König damit aber ebensowenig beeindrucken wie der Wunsch einer Delegation von Abgeordneten, er, Friedrich Wilhelm, möge ein volkstümliches Kabinett berufen, oder das berühmte Wort, das ihm Johann Jacoby, der jüdische Arzt aus Königsberg, bei dieser Gelegenheit zurief: «Das ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen.» Friedrich Wilhelm IV. war seit dem Beschluß der Nationalversammlung, das Gottesgnadentum betreffend, entschlossen, seinen Plan vom 11. September in die Tat umzusetzen. Er schwenkte damit endgültig in die Bahn ein, in die ihn die konservative «Kamarilla» um den General Leopold von Gerlach und seinen Bruder Ernst Ludwig, den Präsidenten des Appellationsgerichts Magdeburg, seit langem drängte.
Am 9. November 1848, dem Tag, an dem in Wien Robert Blum exekutiert wurde, ordnete der König die Verlegung der Nationalversammlung nach Brandenburg an der Havel und ihre Vertagung bis zum 27. November an. Das Parlament protestierte, nachdem 77 konservative Abgeordnete zusammen mit dem neuen Ministerpräsidenten die Sitzung verlassen hatten, gegen das putschartige Vorgehen Friedrich Wilhelms und setzte seine Beratungen im Berliner Schauspielhaus fort, bis Truppen unter dem Befehl des Generals von Wrangel den Abbruch der Sitzung erzwangen. Dasselbe Schicksal widerfuhr der folgenden Sitzung, in der die Mehrheit der Abgeordneten zuvor einen Aufruf zur Steuerverweigerung beschlossen hatte. Das Reichsministerium und der Präsident der deutschen Nationalversammlung, Heinrich von Gagern, versuchten zwischen König und Parlament zu vermitteln, hatten damit aber keinen Erfolg.
Am 5. Dezember löste der König die preußische Nationalversammlung auf
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