Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
und Verkündigung in Kraft.
Die Verfassung vom 28. März 1849 versprach den Deutschen eine Mischung aus konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie. Der Kaiser ernannte die Reichsminister; seine Regierungshandlungen mußten von mindestens einem Reichsminister gegengezeichnet werden, der damit die Verantwortung übernahm. Gemeint war eine juristische, keine parlamentarische Verantwortung. Das suspensive Veto wurde durch die Reichsregierung ausgeübt. Ohne Zustimmung der Reichsregierung konnte ein Beschluß des Reichstags nur in Kraft treten, nachdem er in drei unmittelbar aufeinander folgenden Legislaturperioden unverändert gefaßt worden war. Reichstagsbeschlüsse kamen nur durch übereinstimmung beider Häuser, des Staatenhauses und des Volkshauses, zustande. Das Staatenhaus bestand zur einen Hälfte aus Beauftragten der Regierungen, zur anderen aus Delegierten der Volksvertretungen der Einzelstaaten. Die Mitglieder des Volkshauses wurden auf drei Jahre nach einem Wahlrecht gewählt, das durch das Wahlgesetz vom 27. März 1849 geregelt wurde: Es führte das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht ein, das (aktiv wie passiv) den männlichen Deutschen zustand, soweit sie das 25. Lebensjahr vollendet hatten und im Vollbesitz der bürgerlichen Rechte waren. Der Kaiser besaß das Recht, das Volkshaus aufzulösen. Ihm oblag die völkerrechtliche Vertretung des Reiches und der Einzelstaaten. Er erklärte Krieg und Frieden und schloß Verträge und Bündnisse mit auswärtigen Mächten.
Der Reichsgewalt stand die gesamte bewaffnete Macht Deutschlands zur Verfügung. Das Reichsheer bestand aus Kontingenten der Einzelstaaten, die das Recht hatten, die Befehlshaber und Offiziere ihrer Truppen zu ernennen. Das Reich besaß im Hinblick auf das Heer das Recht der Gesetzgebung und der Organisation. Es übte die Kontrolle über die Durchführung der einschlägigen Bestimmungen in den einzelnen Staaten aus. Nur die Seemacht war ausschließlich Sache des Reiches. Wurde ein deutscher Staat von einem anderen in seinem Frieden gestört und gefährdet, hatte das Reich die Befugnis, die notwendigen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zu treffen. Dasselbe galt, wenn die Verfassung eines deutschen Staates gewaltsam oder einseitig aufgehoben oder verändert wurde.
Den Deutschen verbürgte die Verfassung umfassende Grundrechte, darunter die Unverletzlichkeit der Freiheit der Person, die Gleichheit vor dem Gesetz und die volle Glaubens- und Gerichtsfreiheit. Durch das religiöse Bekenntnis durfte der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt werden. Wäre die Verfassung in Kraft getreten, hätte sie jeder Diskriminierung von Juden den Rechtsboden entzogen.
Bei den Grundrechten und im Verhältnis von Zentralgewalt und Einzelstaaten waren die Unterschiede zwischen der «Verfassung» des Deutschen Bundes und der Reichsverfassung von 1849 markant. Das Reich der Paulskirche wäre gewesen, was der fürstliche Staatenbund von 1815 nicht war: ein Rechts- und ein Bundesstaat. Auch hinsichtlich der äußeren Machtstellung hätte die Inkraftsetzung der Reichsverfassung einen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet: Der Deutsche Bund war nach außen nicht angriffsfähig, das Deutsche Reich, wie es der Nationalversammlung vorschwebte, sollte eine Großmacht sein, die zur Erreichung ihrer Ziele auch militärische Mittel einsetzen konnte.
Was die Machtverteilung zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt betraf, trug die Verfassung alle Züge eines prekären Kompromisses. Wäre es nach den gemäßigten Liberalen gegangen, hätte die vom Kaiser geführte Zentralgewalt nicht bloß über das aufschiebende, sondern über das absolute Vetorecht verfügt. Nur so meinten viele von ihnen die äußere Machtstellung Deutschlands sichern und die Gefahr des politischen und sozialen Radikalismus bannen zu können. Aber auch unter Geltung des aufschiebenden Vetos, auf dem die gemäßigten Demokraten beharrt hatten, war die Stellung des Kaisers so stark, daß sie das (von der Verfassung nicht ausdrücklich proklamierte) Prinzip der Volkssouveränität massiv einschränkte, ja in Frage stellte.
Der Souveränität des Volkes trug die Kaiserwahl durch die Nationalversammlung Rechnung: ein Verfahren, das mit konservativen Vorstellungen von monarchischer Legitimität nicht zu vereinbaren war. Die Freistellung des Monarchen von persönlicher Verantwortlichkeit und die
Weitere Kostenlose Bücher