Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Vererbbarkeit der Kaiserwürde widersprachen hingegen dem Gedanken, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausging. Die größte demokratische Errungenschaft der Verfassungsordnung von 1849 war das allgemeine gleiche Wahlrecht, auf dem die Demokraten mit Erfolg bestanden hatten. Die Liberalen, die ein Zensuswahlrecht bevorzugten, hatten dieses Zugeständnis nur gemacht, weil sie es durch das Erbkaisertum und die Machtfülle der Exekutive einigermaßen ausbalancieren zu können hofften – und weil andernfalls überhaupt keine Reichsverfassung zustande gekommen wäre.
Das Inkrafttreten der Verfassung hing nach dem 28. März von einem Mann ab: dem König von Preußen. Als die von Eduard Simson geführte Delegation der deutschen Nationalversammlung am 3. April 1849 mit Friedrich Wilhelm IV. in Berlin zusammentraf, um ihm die Kaiserkrone anzubieten, hatte dieser sich längst entschieden. Der König von Gottes Gnaden war nicht bereit, ein Kaiser von Volkes Gnaden zu werden. Was Friedrich Wilhelm an den Frankfurter Beschlüssen störte, war nicht nur das bloß aufschiebende Veto des Staatsoberhaupts: eine Bestimmung, die zumindest langfristig auf ein parlamentarisches System hinauszulaufen schien. Es war die demokratische Aura der neuen Krone, die der König vertraulich als «imaginären Reif, gebacken aus Dreck und Letten» bezeichnete, weil an ihm der «Ludergeruch der Revolution» klebe.
Die Haltung Friedrich Wilhelms war, wenn man von seinen Vorstellungen ausgeht, in sich schlüssig. Die Annahme der Kaiserkrone hätte den König von Preußen von seinesgleichen, von den Kaisern in Wien und St. Petersburg und den Königen in anderen Hauptstädten Europas, getrennt. Ein Alleingang Friedrich Wilhelms wäre von Österreich als unfreundlicher Akt gewertet worden. Im Fall eines Krieges mit Preußen hätte das Habsburgerreich auf die tatkräftige Unterstützung des Zarenreiches setzen können. Gleichwohl gab Friedrich Wilhelm am 3. April seine abschlägige Antwort nur in verschlüsselter und vorläufiger Form. Am 27. April löste er das im Januar gewählte Abgeordnetenhaus auf, das sich (ebenso wie die erste Kammer) für die Annahme der Reichsverfassung ausgesprochen hatte. Tags darauf, am 28. April, lehnte der König die Annahme der Kaiserwürde endgültig ab. Sein Nein ging einher mit der Zurückweisung der Reichsverfassung, die mittlerweile von 28 Regierungen anerkannt worden war. Die größeren Mittelstaaten Bayern, Württemberg, Hannover und Sachsen hatten diesen Schritt freilich noch nicht getan.
Die Paulskirche verfügte über nichts, was sie der preußischen Absage hätte entgegensetzen können. Am 10. Mai 1849 trat das Reichsministerium Gagern endgültig zurück. In den folgenden Wochen taten Preußen, Sachsen, Hannover und Baden, was Österreich schon zuvor, am 5. April getan hatte, was aber rechtswidrig war: Sie beriefen ihre Abgeordneten aus der deutschen Nationalversammlung ab. Zwischen dem 20. und dem 26. Mai legten die meisten der gemäßigt liberalen Abgeordneten ihre Mandate nieder. Zur Begründung erklärten 65 von ihnen, an der Spitze Gagern, der Verzicht auf die Durchführung der Reichsverfassung sei ein geringeres Übel als die Verbreitung des Bürgerkrieges, der bereits begonnen habe. Etwa 100 Abgeordnete, überwiegend solche der Linken, schlossen sich zu einem Rumpfparlament zusammen, das seinen Sitz am 30. Mai nach Stuttgart verlegte. Dort wurde es am 10. Juni von württembergischem Militär auseinandergejagt.
Der Bürgerkrieg, von dem die 65 liberalen Parlamentarier in ihrer Erklärung vom 20. Mai sprachen, war die sogenannte Reichsverfassungskampagne. Zu ihr gehörten Meutereien in Rheinland und Westfalen, heftige Barrikadenkämpfe in Dresden vom 5. bis 9. Mai, an denen der russische Anarchist Michail Bakunin und der deutsche Komponist Richard Wagner teilnahmen, eine republikanische Erhebung gegen die bayerische Herrschaft in der Pfalz und der dritte badische Aufstand. Am breitesten war die soziale Grundlage der «Mairevolution» im Großherzogtum Baden, wo sich mancherorts auch Bauern an den Kämpfen beteiligten. Zu den aktiven Teilnehmern gehörten Friedrich Engels, der Bonner Kunsthistoriker Gottfried Kinkel und sein Schüler Carl Schurz, der es später in den Vereinigten Staaten von Amerika zu militärischer und politischer Prominenz bringen sollte. In Baden kämpften sogar reguläre Linientruppen auf der Seite der Aufständischen. In Karlsruhe wurde eine revolutionäre Regierung eingesetzt;
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